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Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt

Titel: Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
Autoren: Karl Olsberg
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essen besorgen zu müssen, gleichzeitig aber darauf achten zu müssen, nicht selbst zum Mittagessen einer anderen Spezies zu werden. Die genaue Ausprägung der Verhaltensstrategie eines Lebewesens - beispielsweise die Gewichtung der Nahrungssuche gegenüber dem Verstecken oder der Flucht vor Feinden - bietet unzählige Ansatzpunkte für subtile Varianten, die einen erheblichen Einfluss auf die Überlebenschancen der Spezies und damit auf die Reproduktionschancen ihrer Gene haben. Doch genetische Mutationen des Verhaltens können nur über mehrere Generationen selektiert werden. Der Fortschritt im Verhalten der Lebewesen war bis dato also genauso langsam wie der Fortschritt bei der Entwicklung beispielsweise des Körperbaus oder der Sinnesorgane.
    Das Auftreten des Gehirns änderte das grundlegend. Denn mit dem Gehirn erhielten einige Lebensformen zwei völlig neue Anpassungsmöglichkeiten: Sie konnten aus Erfahrung lernen, und sie konnten Verhalten imitieren.
    Lernen aus Erfahrung stellt zweifelsohne eine Verbesserung der Überlebenschancen dar. Ein Kind, das einmal eine heiße Herdplatte angefasst hat, hütet sich in Zukunft vor Hitze und Feuer und verringert damit die Gefahr, durch diese Einflüsse zu Tode zu kommen. Ein Pflanzenfresser, der verschiedene Grassorten probiert und sich dann Stellen merkt, an denen besonders schmackhafte (das heißt für ihn wertvolle) Gräser wachsen, verbessert seine Effizienz bei der Nahrungssuche.
    Doch manche Erfahrungen macht man nur einmal, und dann ist es zu spät, um daraus zu lernen. Die Erfahrung, dass ein gestreiftes Tier mit langen Zähnen eine tödliche Gefahr darstellt, nützt unserem Pflanzenfresser nicht viel, wenn er nicht durch einen seltenen Glücksfall noch einmal mit dem Schrecken davonkommt. Außerdem kann man Erfahrung ohne entsprechende Kommunikationsmöglichkeiten nicht an seine Nachkommen weitergeben, wie jeder weiß, der Kinder im Teenageralter hat. Der Nutzen von Lernen aus Erfahrung ist für den Fortgang der Evolution also eingeschränkt.
    Es ist fraglich, ob die enormen evolutionären »Kosten« eines Gehirns dadurch zu rechtfertigen wären. Denn in der Natur gibt es nichts umsonst: Ein komplexes Gehirn kostet zum Beispiel eine Menge Energie - beim Menschen verbraucht es etwa 20 Prozent der täglich aufgenommenen Kalorien, obwohl es nur 5 Prozent der Körpermasse ausmacht. Außerdem verlangsamt ein so komplexes Organ den Wachstumsprozess des Organismus’ und damit die Reproduktionsrate.
    Doch das Gehirn bietet noch einen zweiten, wesentlich mächtigeren Vorteil: die Fähigkeit zur Imitation der Verhaltensweisen anderer Artgenossen. Dies führt zu einer neuen Art der Evolution. Denn selbst dann, wenn die Verhaltensänderungen zu Beginn völlig zufällig sind, wirkt auf die Imitation von Verhalten sofort die universelle Kraft von Reproduktion, Mutation und Selektion.
    Nehmen wir beispielsweise an, eine Spezies von Fischen hätte die Fähigkeit, das Verhalten anderer Artgenossen nachzuahmen. Nehmen wir weiter an, manche dieser Fische bevorzugten zufällig die Nähe anderer Fische, wäh-rend wiederum andere eher auf Distanz gehen. Die »Einzelgänger« hätten wahrscheinlich einen Vorteil bei der Nahrungssuche, weil sie nicht mit vielen Artgenossen teilen müssten. Doch die Wahrscheinlichkeit, einem Raubfisch zum Opfer zu fallen, nähme in ihrem Fall ebenfalls zu.
    Ein Jungfisch hat nun die Möglichkeit, das Verhalten entweder eines »Einzelgängers« oder eines »Schwarmsuchers« zu imitieren. Aufgrund der geringeren Überlebenswahrscheinlichkeit gibt es aber vielleicht weniger Einzelgänger als Schwarmsucher. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Jungfisch ebenfalls ein Schwarmsucher wird, und seine Überlebenschancen verbessern sich. Nach kurzer Zeit gibt es dann nur noch Schwarmsucher.
    Das Beispiel ist grob vereinfacht - in der Natur zahlt es sich fast immer aus, wenn einige Individuen aus dem Verhalten der großen Masse ausscheren, und durch Zufallsmutation des Verhaltens würden sich immer wieder neue Einzelgänger herausbilden. Doch es verdeutlicht einen wichtigen Zusammenhang: Wenn eine Spezies das Verhalten ihrer Artgenossen imitieren kann, dann kann dieses Verhalten sich unabhängig von der genetischen Disposition weiterentwickeln. Es ist also nicht erforderlich, dass das Schwarmsucher-Verhalten in den Fischen genetisch verankert ist - sie brauchen lediglich eine gewisse Tendenz, das zu tun, was die anderen machen.
    Um Kritik vorzubeugen:
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