Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
geprägt, wie dies gemeinhin angenommen wird. Dennoch wird kaum jemand bezweifeln, dass zur Zeit Platons und Aristoteles’ und zur Blütezeit des Römischen Reichs die technische und kulturelle Entwicklung in Europa schneller erfolgte als im Zeitraum zwischen etwa 500 und 1400 nach Christus.
Auch in der Natur gibt es offenbar Phasen starker evolutionärer Veränderung, die sich mit Zeiträumen relativer Stabilität abwechseln. Fossilienfunde scheinen darauf hinzuweisen, dass neue Artenvielfalt eher in Schüben auftrat, wie es etwa während der »Kambrischen Explosion« geschah. Wir haben schon gesehen, dass Indizien auf der Basis von Fossilienfunden trügerisch sein können, aber es ist als sicher anzusehen, dass es tatsächlich Phasen gegeben hat, in denen sich die Entwicklung neuer Arten relativ langsam vollzog. Heute können wir beobachten, wie sich die Natur dank unseres Eingreifens in einigen Regionen drastisch verändert, während es (leider immer weniger) Oasen der relativen Ruhe gibt, in denen sich die Dinge augenscheinlich seit Jahrmillionen kaum verändert zu haben scheinen - die letzten Regenwälder etwa.
Stephen Jay Gould und Niles Eldredge entwickelten aus dieser Beobachtung die Theorie des Punktualismus (»Punctuated Equlibrium«). Demnach findet die Evolution in Schüben statt, wenn ein Zustand des Gleichgewichts durch einen äußeren Schock, zum Beispiel eine Klimaveränderung, zerstört wird und sich die aufeinander eingestellten, bisher in perfekter Harmonie zusammenlebenden Lebewesen auf die neue Situation einstellen müssen.
Wir haben gesehen, dass erfolgreiche Replikatoren eine gewisse Robustheit gegen den Wandel äußerer Einflüsse aufweisen müssen. Wenn sich diese Einflüsse nur langsam ändern, dann wird die Evolution solche Replikatoren begünstigen, die unter diesen Bedingungen stabil sind. Es werden sich sogar »Abwehrmechanismen« gegen Veränderungen entwickeln, wie beispielsweise unsere Fähigkeit als Warmblüter, die Temperatur unseres Körpers trotz äußerer Temperaturschwankungen stabil zu halten. Es formen sich also in der Natur immer wieder relativ stabile Systeme, die lange Zeit weitgehend unverändert bleiben können.
Sicher ist allerdings, dass katastrophale Ereignisse diese Stabilität zerstören und Evolutionsschübe auslösen können. Dies ist in der Naturgeschichte oft geschehen, beispielsweise beim Aussterben der Dinosaurier aufgrund eines Asteroideneinschlags vor 65 Millionen Jahren.
Solche Veränderungen kommen aber nicht immer nur von außen. Sie können auch aus dem System heraus entstehen. Wir haben in Kapitel 1 gesehen, dass komplexe dynamische Systeme, wie Computernetze oder der globale Finanzmarkt, zu chaotischen Schwankungen neigen, die plötzlich auftreten und dramatische Veränderungen nach sich ziehen. Die Evolution des Bankensystems wird beispielsweise durch den systeminternen Schock der Finanzkrise von 2008 nachhaltig verändert. Die »Spezies« der lange dominanten amerikanischen Investmentbanken ist bereits ausgestorben; neue Formen der Regulation und Absicherung, neue Geldanlageprodukte werden sich als Konsequenz aus den veränderten »Umweltbedingungen« aufgrund der Krise entwickeln. Dieser Schock ist allein aus dem Finanzsystem selbst entstanden. Äußere Einflüsse haben praktisch keine Rolle gespielt. (Oder korrekter formuliert: äußere, insbesondere politische Rahmenbedingungen haben die Entwicklung eines Systems ermöglicht, das später aus sich selbst heraus kollabiert ist, weil es nicht auf Dauer stabil war.)
Ähnliche Phänomene gibt es auch in der Natur. Durch Zufallsmutation können neue Arten entstehen, die so erfolgreich sind, dass sie ein Ökosystem grundlegend verändern. Gleiches geschieht manchmal, wenn eine fremde Spezies in ein Ökosystem eindringt. Beispielsweise wurde der südamerikanische Kontinent lange Zeit von Beuteltieren beherrscht. Durch die vor rund 3 Millionen Jahren entstandene Landverbindung von Panama konnten Plazentatiere, zu denen auch wir gehören, in diesen Lebensraum eindringen und die einheimischen Beuteltiere in geologisch gesehen kurzer Zeit fast völlig vernichten. Heute gibt es nur noch wenige Beuteltierarten in Amerika.
Dasselbe kann passieren, wenn Menschen absichtlich oder unabsichtlich Lebensformen in fremde Ökosysteme einschleppen. Die Pazifikinsel Guam beispielsweise, die den USA im Zweiten Weltkrieg als wichtiger Stützpunkt im Krieg gegen Japan diente, hatte einst eine prächtige Vogelwelt.
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