Schöpfung außer Kontrolle: Wie die Technik uns benutzt
überwiegend in menschlichen Gehirnen statt. Überwiegend - aber nicht mehr ausschließlich. Wir haben schon gesehen, dass Software heute nur noch mit Hilfe von Software entwickelt werden kann. Gleiches gilt für jede Art von komplizierter Technik: Mikrochips, Autos, Flugzeuge oder Kraftwerke werden heute mit Hilfe von Maschinen geplant und hergestellt. Maschinen, insbesondere Computer, verkürzen die Zeit für die Herstellung neuer Generationen von Produkten drastisch. So dauert es heute beispielsweise nur noch halb so lange, eine völlig neue Automobilserie zu entwickeln und am Markt einzuführen, wie in den achtziger Jahren. Maschinen verbessern offensichtlich unsere Fähigkeit, neue Informationen zu verarbeiten und zu Wissen werden zu lassen.
Genau genommen verbessern sie jedoch unsere Informationsverarbeitungskapazität nicht. Sie nehmen uns diese Arbeit ab. Sie liefern uns statt einer Fülle von Einzelinformationen, etwa über Aufhängung, Material und Anordnung einzelner Brückenelemente, das Modell einer fertigen Brücke. Wir müssen nicht mehr alle Details kennen - der Computer erledigt die mühsame Kleinarbeit für uns. Genau dies führt zu der in Kapitel 1 angeführten »Entfremdung« von der Technik - wir durchdringen und verstehen nicht mehr genau, was da eigentlich vor sich geht.
Ist es denkbar, dass dieser Prozess so weit voranschreitet, dass der Mensch überhaupt nicht mehr gebraucht wird? Können Maschinen völlig ohne unser Zutun neue Techniken und Produkte entwickeln? Diese Frage kann man klar und eindeutig mit Ja beantworten.
»Neuronale Netze« sind Beispiele für Computerprogramme, die selbständig lernen. Sie sind nach den Grundprinzipien unseres Gehirns aufgebaut und simulieren das Verhalten von Neuronen, die untereinander von selbst Ver-knüpfungen herstellen und diese Verknüpfungen in Abhängigkeit von äußeren Reizen verstärken oder abschwächen. Man setzt sie zum Beispiel ein, um in einer großen Menge von unstrukturierten Daten Muster zu erkennen. So können Unternehmen mit Hilfe von Neuronalen Netzen in ihren Kundendaten einzelne Kundengruppen mit ähnlichen Interessen oder Verhaltensweisen identifizieren. Das Interessante daran ist, dass diese Systeme manchmal Zusammenhänge erkennen, die Menschen bisher verborgen geblieben sind. Sie können also Wissen ohne direkte menschliche Hilfe erzeugen.
Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis solche Neuronalen Netze auch nur annähernd die Leistungsfähigkeit eines menschlichen Gehirns erreichen und somit einen Wissenschaftler voll ersetzen können. Aber das ist auch gar nicht erforderlich, um eine weitere Beschleunigung des Fortschritts zu ermöglichen. Denn die technische Evolution ist nicht zielgerichtet. Daher findet sie auch dann statt, wenn Mutation und Selektion »unintelligent« geschehen. Maschinen können Reproduktion, Mutation und Selektion von Memen sehr viel effizienter durchführen als Menschen. Eine memetische Evolution ohne menschliche Hilfe wird daher viel schneller ablaufen.
Ein konkretes Beispiel für diese Art von Evolution sind Computerviren. Zwar werden sie überwiegend noch von Menschen erdacht, aber es gibt bereits Varianten, die sich selbst verändern können. Die Selektion übernehmen in diesem Fall die Virenschutzprogramme. Nach dem Evolutionsalgorithmus breiten sich diejenigen Computerviren aus, die es schaffen, die Sicherheitssysteme zu überwinden. Je leistungsfähiger also die Antivirensoftware, desto raffinierter werden zwangsläufig auch die Viren.
In Teil III werden wir weitere Beispiele dafür kennenlernen, dass Maschinen immer tiefer in den technischen Fortschritt eingreifen. Hier wollen wir uns zunächst mit der Feststellung begnügen, dass auch die menschliche Fähigkeit, neues Wissen zu verarbeiten, offenbar einer S-Kurve folgt, dass allerdings auch diese S-Kurve durch einen »Technologiesprung« verlassen werden kann. Unverrückbare, unüberwindliche Grenzen für die technische Entwicklung sind also entgegen Huebners Thesen nicht erkennbar.
Wie ist es dann zu erklären, dass sich nach Huebners Analysen der technische Fortschritt offenbar nicht kontinuierlich beschleunigt?
Oben habe ich bereits Einwände gegen Huebners Schlussfolgerungen angeführt. Dennoch ist es nicht unplausibel, dass es in der technischen Entwicklung Phasen größerer und geringerer Produktivität gegeben hat und geben wird. Zwar war das Mittelalter nach neueren Forschungen nicht so stark von technischem Stillstand
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