Schokoherz
sie alle anwesenden Journalisten mit einer Mistgabel in den Hintern stechen können. Alle waren sofort hellwach. Tom, der sich gerade eine Gabel voll Eintopf in den Mund geschoben hatte, verschluckte sich. Also ergriff ich die Gelegenheit: »Tim Radisson? Der mit der behinderten Tochter?« Als ich noch bei den News gewesen war, hatte ich mal ein kurzes Interview mit ihr geführt. Nettes Mädchen, das sich in einer Menge von Behinderten-Wohltätigkeitsverbänden engagierte. Er wiederum war ein typischer EU-Politiker, für die breite Masse dermaßen unauffällig, dass einem nichts zu ihm einfiel. An meinem Dinnertischheute Abend sah die Sache natürlich anders aus, denn hier waren Radissons Untaten Brot und Butter für die Journalisten.
»Genau der.« Vanessa blickte kaum in meine Richtung und ließ sich definitiv nicht dazu herab, mich zu fragen, woher ich seine Tochter kannte.
»Er hat mit Kommissionsgeldern ein Privatflugzeug für sich gechartert, und wir wissen, wann und wohin er damit fliegt – und warum«, fügte sie triumphierend hinzu.
Tom hatte den Fleischbrocken inzwischen geschluckt und unterbrach sie lautstark mit vor Ärger und Sauerstoffmangel hochrotem Kopf. »Ha, ha, Vanessa, guter Witz. Ihr wärt fast drauf reingefallen, was?« Besorgt sah er die Männer in der Runde an. Diese wichen seinem Blick geflissentlich aus. »Wie dem auch sei, wir wollen hier doch der Konkurrenz keine Tipps geben, nicht wahr? Oberste Journalistenregel«, belehrte Tom Vanessa von oben herab. Es überraschte mich nicht, dass sie sich schmollend verteidigte.
»Bloß, weil ich nicht lange studiert habe, hältst du mich für blöd. Aber ich erkenne eine Korruptionsstory, wenn ich sie sehe ...«
»Vanessa, das reicht jetzt«, unterbrach Tom sie scharf. Mir reichte es auf jeden Fall. Ich war mir nicht sicher, was ich schlimmer fand: zusehen zu müssen, wie Tom mit Vanessa flirtete oder wie er sie zurechtwies. Nichts verriet mehr über ihre Vertrautheit als die Art, wie er sie zusammenstauchte. So ging man nur mit Menschen um, denen man sehr nahestand. Mühsam wandte ich mich wieder Fabrice zu, dessen letzte Frage mir entgangen war.
»Ichhabe gefragt, was machen Sie mit den choux de Bruxelles in England?«
»Nun, wir kochen sie etwa zwanzig Minuten lang«, antwortete ich, immer noch leicht abgelenkt, obwohl mich sein warmer Tigerblick enorm beruhigte.
»Nein! Und was dann?«
»Ähm, das war's. Dann essen wir sie.«
Fabrice hielt einen Moment lang inne, um zu sehen, ob ich Witze machte. Dann seufzte er. »So essen Sie sie? Kein Wunder, dass es dort kein beliebtes Gemüse ist, diese kleinen choux«. Er schüttelte den Kopf. Mir gefiel die Art, wie er sich um den Rosenkohl sorgte.
»Was würden Sie sagen, wie bereitet man ihn am besten zu?«
»Vorsichtig im Dampf garen, mit ein wenig Kreuzkümmel und einer kleinen, wie sagt man, noisette geschmolzener Butter. Ein Hauch von zartem Grün auf dem Teller. So frisch und hübsch.«
Hübsch? Wer hätte je gedacht, dass man dieses Adjektiv mit Rosenkohl in Verbindung bringen konnte? Trotzdem hatte er recht. Ich sah die einzelnen Blättchen fast vor mir, mit ihren dünnen Adern, glänzend vor Butter. Mein Blick verhakte sich mit dem von Fabrice, und ich konnte förmlich das zarte und doch feste Fleisch schmecken. Dachte ich hier wirklich immer noch an Kohl? Hmmm, ich könnte schwören, ja. Wow, was für ein Mann.
Als würde ich aus einem Traum erwachen, schob ich meinen Stuhl nach hinten. An der abgeebbten Unterhaltung konnte ich erkennen, dass alle mit dem Essen fertig waren. Der Zeitpunkt für mein Meisterstück war gekommen. Ich sammelte die Teller ein und mussteverärgert feststellen, dass Vanessa nicht mal so getan hatte, als würde sie ihren köstlichen Eintopf essen. Ihr Baguettebrötchen – mein Baguettebrötchen – hingegen hatte sie in kleine Stücke gerissen und überall verstreut. Das würde morgen eine tolle Sauerei zum Putzen geben.
Die Küche war ein willkommener Rückzugsort vor meiner intensiven Unterhaltung mit Fabrice und den verworrenen Details des EU-Tratsches, mit denen die anderen so mühelos um sich warfen. Während ich mit den Tellerstapeln herumhantierte, wurde mir klar, dass ich auch zu viel von Toms edlem Claret getrunken hatte. Als guter Gastgeber achtete er darauf, dass alle Gläser immer bis zum Rand gefüllt waren. Auch wenn man nur ab und zu ein wenig daran nippte, trank man dadurch mehr als geplant. Und da ich gerne mehr als nur nippte, konnte
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