Schokoherz
schuldig.«
Tom stöhnte. »Komm schon, Bella, ich bin völlig erledigt. Ich bastele morgen bei der Arbeit schnell was zusammen.«
»Also ich bin nicht müde. Geh du ruhig schon ins Bett. Ich werde einen wissenschaftlichen Test durchführen und dir die Ergebnisse morgen mitteilen.« In Windeseile räumte ich die Teller beiseite. Mein langer Tag war vergessen. Tom spürte meinen Enthusiasmus, zuckte mit den Schultern und trollte sich.
Im Hinblick auf die bevorstehenden Genüsse rieb ich mir freudig die Hände. Aber was war mit dem Schweinekotelett, das ich gerade gegessen hatte? Berechtigte Frage. Wen kümmert das Kotelett, lautete meine Antwort. Sehen wir den Tatsachen doch ins Auge: Hauptspeisen isst man nur, um die Zeit zwischen den Schokoladengenüssen zu überbrücken. Und das hier würde der Genuss par excellence werden.
Alleine in der stillen Küche, riss ich mir ein Blatt vorn Malblock der Kinder und nahm einen Kugelschreiber aus der Tasche von Toms Jackett, das über dem Stuhl hing. Hm, was steckte da noch drin? Ein Eurostar-Fahrplan. Seltsam. Es war doch noch ein bisschen früh, um Fahrten in die Heimat zu planen. Aber trotzdem lieb. Tom war wirklich fürsorglich. Bestimmt war ihm klar, dass ich meine Freunde vermissen und ab und zu gerne in Blighty vorbeischauen würde. Ich schob den Fahrplan zurück und wandte mich meinem frisch eingerichteten Schokoladenvorrat in einem kindersicheren hohen Hängeschrank im großen Vorratsraum zu. Dort griffich mir aus den gut gefüllten Regalen zwei Tafeln, setzte mich an den Tisch und ordnete die Tafeln links und rechts von dem Blatt Papier an. High Noon-ähnliche Spannung lag in der Luft, nur noch intensiver.
Auf der einen Seite wartete eine Tafel Dairy Milk, die wir versehentlich importiert hatten und die vermutlich alle möglichen EU-Schmalzverordnungen brach. Die Umzugsmänner hatten sie in Luftpolsterfolie verpackt und ganz zuunterst in einem Karton mit Handtüchern verstaut. Also gut, es war zwar nicht unbedingt meine Lieblingsschokoladensorte, aber schließlich handelte es sich dabei seit Menschengedenken um ein solides englisches Grundnahrungsmittel.
Dem gegenüber stand die Neue im Schrank: echte belgische Côte d'Or, chocolat au lait intense, eine dünne, elegante Tafel, die köstliche Verheißungen verströmte. Ich lechzte danach, die Folie von beiden Tafeln abzureißen und sie mir in den Mund zu stopfen, doch das hier war eine ernsthafte Angelegenheit. Ich musste langsam vorgehen. Also schloss ich die Augen, atmete tief durch und ging so besonnen und cool ans Werk wie ein Revolverheld in die Schießerei.
Die Dairy Milk zuerst. Diese lilaglänzende Verpackung stellte wirklich den besten Farbkontrast zu Milchschokoladenbraun dar, den man sich ausdenken konnte. Die Côte d'Or daneben steckte in einer braunen Hülle, auf der eine Schaufel voll Bohnen abgebildet war. Vermutlich handelte es sich um Kakaobohnen, aber wer will schon an Bohnen denken, wenn man kurz vorm Schokoladengenuss steht? Bohnen gehören in eine ganz andere Nahrungsmittelkategorie, vielen Dank – im besten Fall hält man sie für Gemüse, im schlechtesten sind sieauf einer Ebene mit Linsen. Sie gehören schlicht-weg nicht in die Welt des Genusses. Also gewannen die Briten in Sachen Präsentation, gar keine Frage. Doch nun kamen wir zum Eigentlichen – dem Geschmack. Ich griff ruhig zur ersten Tafel. Cadbury. Mhm, so vertraut. Es war fast so gut wie eine Umarmung meiner Mutter. Einfach nur schön. Das Stück in meinem Mund schmolz rasch zu einer befriedigenden klebrigen Masse. Ich mampfte glücklich und spürte, wie die zuckrige Süße jeden Zahn einzeln liebevoll mit einem weichen Schokoladenpelz überzog. Hm. Rasch schluckte ich, trank etwas Wasser und wandte mich dann Kandidatin Nummer zwei zu.
Es dauerte einen Augenblick, bis meine Geschmacksnerven in Gang kamen, aber als es so weit war – wow!
Der Unterschied war beeindruckend. Ich musste zugeben, das hier war ein reichhaltigerer, viel, viel schokoladigerer Geschmack. Natürlich war Cadbury-Schokolade schokoladig, aber irgendwie nicht so schokoladig. Cadbury war, als würde man ein Bild von Schokolade betrachten, während diese Tafel hier echtes Schokoladeessen bedeutete. Außerdem blieb einem dieser Geschmack noch eine Weile länger im Mund. Und er besaß ein angenehme Kopfnote von Vanille. Er war rund, er war intensiv, er schien alle Winkel meiner Geschmacksnerven zu kitzeln, an denen die Dairy Milk bloß vorbeigerauscht war.
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