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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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haben kein Kind verdient. Und erst recht haben sie nicht meinen toten Bruder als Kind verdient. Der Arme, was der alles durchmachen musste! Als deren Kind. Der hat so sehr seinen Vater vermisst, viel mehr als ich. Und dadurch, dass mein lieber Bruder tot ist, werden die Vorwürfe unerträglich schwer und stark. Ich muss die Fackel hochhalten, auch für ihn.
    Die ganze Familie sagte Sachen zu mir wie »Aber deine Mutter liebt dich doch so«. Ja, sage ich da, zu sehr liebt sie mich, sie lässt mich nicht los. Sie will alles bestimmen und kontrollieren. Ich darf nur so sein, wie sie es will, sonst soll ich lieber nicht sein. Ich habe meinen Verwandten gesagt: »Sie umarmt mich, und wenn ich nur ein bisschen Abstand gewinnen will, um ich selber zu sein, autonom, und mich einen Schritt aus der Umarmung löse, sehe ich an meinem Körper runter und sehe, dass alles am Bauch aufgeschnitten und zerfetzt ist, von ihrer Umarmung.«
    »Aber deine Mutter hat dich doch so geliebt. Sie war doch so eine gute Mutter für dich.« Ja, ja. Wenn ihr dabei wart, hat sie den kreativen lustigen Kinderclown gespielt, die Kinderfreundliche, die mit den starken Nerven. Aber wenn wir mit unserer Mutter alleine waren, hat sie die überforderte Bestie rausgelassen. Dann hat sie nur rumgeschrien. Sie hatte meist die Nerven blank liegen. Hat man eben mit so vielen Kindern zu Hause. Hab ich ja schon bei einem Kind! Was ich aber nicht mache, und deswegen, denke ich, bin ich hoffentlich wenigstens ein minibisschen besser als meine Mutter: Ich schlage mein Kind nicht. Sie hat sich bestimmt damals eingeredet, dass sie keine körperliche Gewalt anwendet, dass sie ihre Kinder nicht schlägt. Hat sie aber. Das geht so, falls jemand das zu Hause nachmachen will: Man hält den Arm des Kindes ganz fest in der Erwachsenenhand und schickt mit aller Kraft eine Art Stromstoß durch den kleinen Körper. Man benutzt den ganzen Kinderkörper als Peitsche. Man holt aus mit dem kleinen, leicht auszukugelnden Ärmchen und schwingt mit aller Kraft in die entgegengesetzte Richtung. Dadurch fliegt der Körper fast vom Arm ab, und das tut einem Kind so weh, dass es lange danach kaum Luft kriegt. Ich kann mich noch erinnern, dass ich meine Mutter völlig erstaunt anguckte, nachdem sie das bei mir gemacht hatte. Ich konnte nie begreifen, wie meine Kinderclownmutter mir das antun konnte.
    Die Verwandten denken, ich lüge, wenn ich denen meine Wahrnehmung meiner eigenen Mutter erkläre. Das können die sich einfach nicht vorstellen, dass sie zwei Gesichter hat. Das habe ich auch von meiner Mutter gelernt: Wenn ich ausrasten muss, habe ich mich immer absolut unter Kontrolle, bis ich mit meinem Mann allein zu Hause bin. Home sweet home . Und sobald die Tür zu ist, geht’s los. Es kann passieren, dass er den ganzen Abend nicht bemerkt, dass ich rasend bin. Ich spare es mir auf, bis wir alleine sind, damit ja niemand mein wahres Ich sieht. Das hat Mutter mit uns Kindern auch gemacht. Lange nachdem wir Mist gebaut hatten, kam die Strafe, ohne Zeugen. Die perfekte Selbstkontrolle des Racheengels.
    Bei uns wird nur gedroht: Wenn du das und das nicht machst, meistens Zähneputzen vorm Ins-Bett-Gehen, schlimmere Probleme haben wir meistens nicht mit unseren Kindern, dann gibt es keine Geschichte abends im Bett. Das zieht bis heute!
    Und wenn ich das gedroht habe, was selten vorkommt, aber manchmal eben doch, dann muss ich das auch durchziehen. Das läuft dann auf ein grausames Schauspiel zwischen Mutter und Tochter hinaus. Ich hasse es selber, das machen zu müssen, aber ich bleibe dann dabei, auch wenn Tränen fließen, weil ich aus Erziehungsbüchern gelernt habe, dass die Kinder Halt bekommen, wenn sie sich auf die Konsequenz der Eltern verlassen können. Ich meine immer, es gefällt dem Kind auch, wenn man dabei bleibt, was man gesagt hat. Kann aber auch sein, dass ich mir das nur einbilde, weil es so schrecklich ist, konsequent sein zu müssen. Es tut mir manchmal körperlich weh, wenn sie da im Bett weint und nur eine Geschichte von ihrer Mutter will, und die fällt aus, nur weil ich gedroht habe, dass sie ausfällt. Wie schizophren das ist. Oft möchte ich einfach nur aufgeben. Als Mutter. Und erst recht als Stiefmutter.
    Ich habe mir schon ganz oft gewünscht, dass Max, mein Stiefsohn, mit dem Flugzeug abstürzt, hat aber zum Glück oder leider, keine Ahnung, nie geklappt. Da sieht man mal, wie gut das funktioniert, das ganze Wünschen. Ich dachte immer, wenn ich es schon

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