Schossgebete
ich mache mich auf einiges gefasst. Aber darauf kann man sich nicht gefasst machen.
Er gibt mir das Blatt, es ist schon auf der richtigen Seite aufgeschlagen. Diese Schweine haben, wie auch immer sie daran gekommen waren, ein Foto von der Unfallstelle abgedruckt, über eine halbe Seite. Ich starre auf das ausgebrannte Auto. Das Gerippe, in dem meine Brüder ums Leben gekommen sind. Ich wollte das Bild niemals sehen. Aber in dem Moment brennt es sich für immer in mein Hirn, dank der Druck -Zeitung. Meinen Freund trifft meiner Meinung nach keine Schuld. Ich muss doch wissen, was jetzt jeder sehen kann. Der Tatort, abfotografiert für die Öffentlichkeit. Wo ist da der Nachrichtenwert? Für mich ist das Leichenfledderei. Sie haben unserer Familie was geklaut, nämlich das private Andenken, die privaten Bilder. Das geht niemanden was an, wie das ausgebrannte Auto aussieht, in dem sie starben. Niemanden. Nur die Polizei und, wenn überhaupt, die Angehörigen. Das Auto ist für mich heilig, die letzte Ruhestätte meiner Brüder, und die Schweine haben es beschmutzt. Sie haben das Andenken an meine Brüder und die Unfallstelle beschmutzt, indem sie es an die Öffentlichkeit zerren! Was für eine Vergewaltigung unserer Familie. Das hätte keiner sehen dürfen. Ihr seid schlecht für dieses unser Land. Ihr tut so, als wärt ihr Christen, dabei seid ihr das genaue Gegenteil. Für eure Arbeit hättet ihr äußerste gesellschaftliche Ächtung verdient. Das weiß ich jetzt. Ich habe es am eigenen Leib gespürt. Wenn man jemanden, der so verletzt und verwirrt ist, so öffentlich demütigt und vergewaltigt, dann züchtet man sich seinen eigenen Terroristen ran. Das werde ich rächen.
Ich sage wieder kein Wort zu meinem Freund, ich ziehe mich wie ein verletzter Indianer in mich zurück und schwöre Rache. Ich ziehe meinen Freund doch nicht mit da rein. Die würden schon sehen, was die davon haben. Ich schwöre mir da auf dem Flur, dass ich nicht ruhen werde, bis ich sie getötet habe dafür. Nachdem ich lange genug völlig entgeistert das Autowrack meiner Mutter angestarrt habe, sehe ich andere Details, die mich noch wütender machen. Diese Wut habe ich in einem kleinen, schönen, verschnörkelten Glasfläschchen mitten in meinem Herzen konserviert, die Flüssigkeit darin ist dunkelgrün, bis ich zuschlagen kann, mich wehren, ihnen zeigen, wie das so ist, was sie mir da angetan haben.
Da sind große Buchstaben auf der Seite. Ich kann den Sinn nicht entziffern, weil ich außer mir bin vor Wut. Ich kann vor Wut nicht mehr lesen. An den großen Buchstaben züngeln Flammen hoch. Das hat ein Grafikdesigner in den Redaktionsräumen gestern, nach unserem Unfall, gemacht. Er hat an seinem Rechner gesessen und mit seiner Computermaus züngelnde Flämmchen an jeden Buchstaben gepappt. Die Buchstaben dann über das ausgebrannte Auto meiner Mutter gelegt. Feuer, geh mit mir! Ich hoffe, er ist stolz auf seine Arbeit. Jeden Tag wünsche ich dieser Person, dass sie Handkrebs kriegen möge, und zwar in der Hand, die die Maus bedient. Vielleicht klappt es ja! Wer weiß? Hoffentlich!
Das war der erste und einzige Tag, an dem ich einem Verwandten von uns erlaubt habe oder ihn im Nachhinein nicht fertiggemacht habe dafür, dass er ihnen die paar Cent in den Rachen geschmissen hat. Er guckt mich komisch an, mein Freund. Mein lieber Freund. Er ist auch völlig überfordert von der Situation.
Er sieht mir an, dass sich da was zusammenbraut, aber das Ausmaß erahnen kann er nicht. Ich falte die Seiten ganz klein zusammen, gehe in unser Zimmer und lege sie unter mein Kopfkissen. Es soll mich immer erinnern. Die Wut aufrechterhalten. Bis ich zuschlage. Ich werde eine Heldin sein. Ich werde eine Heldin sein. Ich wollte schon immer mal was Heldenhaftes tun. Schön. Jetzt hab ich was!
Der zweite Tag vom Ende meines Lebens hat gerade begonnen. Ich teile mit meinem Freund das Graubrot mit Käse und einen Kaffee. Die Krankenschwester sagt, sie könne leider keine drei Frühstücke servieren, ist alles abgezählt. Kein Problem.
Wir wechseln uns immer ab mit der Betreuung meiner Mutter im Krankenhaus. Die Engländer wollen mich etwas entlasten, sie merken alle, dass ich für den Verlust, den auch ich erlebt habe, zu sehr zurückstecke hinter meiner Mutter. Bei dem Abwechseln begeht mein Onkel einen fatalen Fehler. Er denkt: Okay, die Schwester, also meine Mutter, schläft, ich geh mal kurz an die frische Luft, vertrete mir die Beine und hol mir in der
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