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Schossgebete

Schossgebete

Titel: Schossgebete Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Roche
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Cafeteria einen Kaffee.
    Das ist jetzt eine Rekonstruktion der Tat, da ich ja leider nicht dabei war, um sie zu verhindern. Ich hätte die grün und blau geschlagen, diese Schweine. Niemand war da, um meine verbrannte, verwirrte, vollkommen mit Medikamenten zugepumpte Mutter vor ihnen zu beschützen. Ein Kamerateam von Boulevard- TV schleicht sich mit Equipment ins Krankenhaus rein, unbemerkt vom Pförtner, als Tarnung mit Blumen in der Hand. Irgendwie finden sie heraus, wo Mutter liegt, gehen in ihr Zimmer und wecken sie. Sie lügen sie vorsätzlich an. Die Geschichte geht so: »Das tut uns wirklich wahnsinnig leid, dass Sie Ihre Kinder bei dem Unfall verloren haben. Ein Lkw-Fahrer war wohl schuld. Wir machen jetzt einen Bericht gegen Lkws auf Autobahnen, weil sie so viel Leid verursachen.« Und haben damit meine arme Mutter am Wickel. Sie richtet sich im Bett auf und denkt, verschlafen und verwirrt, wie sie ist von diesem grausamen Überfall, sie muss jetzt ein Interview geben, um weitere solcher Unfälle zu verhindern. Wir wissen ja alle, wie journalistisch unsauber Boulevard- TV arbeitet, die reinsten Blutgafferpornografen! Meine Mutter aber, als Engländerin in diesem Land, interessiert sich reichlich wenig für deutsches Fernsehen, hat keine Ahnung, was Boulevard- TV ist, und glaubt ihnen ihre ehrenhaften Beweggründe.
    Sie lässt sich filmen, immer noch mit Schnitt- und Brandwunden im Gesicht, mit den verschmorten, wild abstehenden Haaren, ihrer von den Medikamenten getrübten und unter vielen Schichten brodelnden Erkenntnis, dass ihre Jungs tot sind. Noch vor irgendeinem Arzt, Seelsorger oder Verwandten hat sich dieses Kamerateam Vortritt verschafft, um mit meiner Mutter über ihre toten Kinder gesprochen zu haben. Mir hat der Arzt gesagt, das würde Tage dauern, bis man das dürfe. Und die brechen in das Zimmer meiner Mutter ein und ficken ihr in ihre kaputte Seele. Und ich kann es nicht verhindern. Ich habe mich auf den Onkel verlassen, und er hat versagt.
    Als ich zurückkomme und von dem Überfall höre, schreie ich meine Mutter an: »Warum hast du das gemacht? Warum hast du mit ihnen geredet? Warum hast du nicht geklingelt, dass jemand sie rausschmeißt? Diese Vergewaltiger!«
    Sie sagt ganz kleinlaut: »Sie haben gesagt, dass sie in Zukunft solche Unfälle mit diesem Bericht verhindern wollen.«
    »Ja, haben die gesagt, damit du die Beine breit machst und die dich ficken können, verdammt.«
    Ich habe den Bericht gesehen. Es ging natürlich in keinem einzigen Wort um Unfallverhinderungsmaßnahmen auf Autobahnen. Natürlich nicht, verdammt. Reinster Emotionsporno. Unsere Mutter hat uns Anstand beigebracht. Dem ersten Impuls zu gaffen widerstehen, sich nicht ergötzen am Leid des anderen. Jeder hat die Wahl: zu den Anständigen gehören und so was vermeiden oder zu den Unanständigen gehören und die Sensationsgier befriedigen, tatsächlich, nachweislich auf Kosten anderer!
    Ich drücke die Gedanken an den Unfall weg, ich muss wirklich aufpassen, nicht zu viel darüber zu grübeln, das macht mich kaputt. Davon werde ich rasend aggressiv. Sagt Frau Drescher. Ich konzentriere mich auf meine Familie heute. Die Mutter bin ich ja jetzt äußerlich los. Ich habe Schluss gemacht. Innerlich werde ich sie niemals los, sagt Frau Drescher.
    Weil ich es so hasse, wie sie ihr Leben, vor allem vor dem Unfall, gelebt hat, mit mir als Kind, muss ich jetzt zwanghaft spießig sein. Bleiben. Aber ohne Vorbild, von innen heraus, bringe ich es mir selber bei. Ich betrete jeden Tag Neuland, weil meine Mutter es mir nicht mitgegeben hat, wie man wo bleibt, wie man Wurzeln schlägt, wie man bei einem Mann bleibt. Wie man an etwas arbeitet. Investiert. Ich möchte das meinem Kind aber bieten. Man sagt doch: Ohne Wurzeln kann man später nicht fliegen. Ich kann nicht fliegen. Ich bin der lebende Beweis, dass dieser Spruch stimmt. Ich habe Angst, weil ich entwurzelt bin. Ich habe Angst, weil ich keine Vergangenheit habe.
    Ich wünsche mir für meine Tochter, dass sie so spießige Eltern hat, dass sie wurzelt in einem Zuhause, dass sie denkt, Mann, sind die langweilig, und irgendwann einfach fliegt. In ihr Glück. Und ab und zu nach Hause kommt zu ihren spießigen Eltern. Dafür verbiete ich mir fast alles, was ich gerne machen würde: Drogen nehmen, mich kaputtsaufen, rumficken, feiern und vor allem – sterben. Vielleicht, wenn sie leben kann ohne mich. Ich hätte sie nie kriegen dürfen. Das war ein riesiger Fehler. Mir war

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