Schossgebete
schon damals klar, dass ich durch meine eigene Hand gehen werde. Aber ich wollte doch so sehr einen Kinderersatz für meine leidende Mutter. Und ich hänge jetzt selber so an ihr, ich liebe sie über alles, auch wenn sie mein Leben ruiniert hat, mir alle Lebenskraft absaugt, wie ein egoistisches kleines Vogelbaby, sie macht mir meinen Abgang so unglaublich schwer. Die Erfüllung meines Plans. Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wann braucht ein Kind seine Mutter nicht mehr? Nicht mehr so? Wann darf ich mich umbringen und eventuell jemanden mitnehmen?
Nachdem ich die Tochter bei ihrem Vater abgesetzt und die Medikamente abgegeben habe, mit genauer Beschreibung, wie mit ihnen umzugehen ist, muss ich schnell in die Therapie fahren. Aber nicht zu schnell. Immer nur, was erlaubt ist. Ich stelle mir beim Fahren vor, wie sich das auf mein Leben auswirkt, wenn ich jemanden überfahre und ich zu schnell war, und wie dessen ganzer Verwandtschaft dann die Nachricht von der Polizei beigebracht wird, dass ihr Verwandter gestorben ist, durch eine Frau, die auf dem Weg war zu ihrer Therapie, um ihren Unfall in der Familie zu heilen. Nur weil sie knapp dran war, gab sie etwas zu viel Gas. Und dass ich wohl oder übel auf die Beerdigung müsste, wenn ich es geschafft hätte, ihn direkt totzufahren, oder eben im Krankenhaus besuchen, wenn er noch nicht tot wäre. Und was ich dann sagen soll und wie der Druck in meinem Gesicht sichtbar würde und wie ich fast wieder in Lachen ausbrechen müsste, weil der Druck für ein Trauergesicht so groß würde, dass ich fast platzen müsste.
Also fahre ich langsam und gucke auf die Geschwindigkeitsbegrenzungsschilder, und sie werden meine Freunde und sind nicht mehr meine Feinde, die mich daran hindern, pünktlich zu kommen. Sie helfen mir, dieser trauernden Familie niemals in die Augen gucken zu müssen. Ich denke viel über meine Therapie nach, sie bestimmt mein Leben, ich brauche diese Stütze. Ich begreife mich selber als ein kleines Hortensienbüschchen, das regelmäßig geschnitten werden muss, von meiner Therapeutin, sonst wuchere ich aus mit all meinen kaum zu kontrollierenden Ängsten und psychischen Störungen, sodass ich alles und jeden, der mir lieb ist um mich herum, abtöte. Im Grunde bin ich lebensfeindlich und will mir immer selber beweisen, dass alles schrecklich ist, keiner mich liebt, dass ich alles alleine machen muss und auf dieser schrecklichen Welt ganz alleine bin. Dass es sowieso besser wäre, wenn ich früh ginge, dann würde ich weniger Leuten auf den Sack gehen.
Auf dem Weg zur Therapie versuche ich im Kopf klar zu bekommen, was ich mit Frau Drescher besprechen will. Ich versuche mir die Zeit und die Themen einigermaßen einzuteilen, damit ich nicht plötzlich vom Therapiestundenende überrascht werde.
Ich habe mir Agnetha direkt nach dem Unfall gesucht. Ich denke gerne daran zurück, wie ich auf sie getroffen bin. Ich durfte ja von der Krankenkasse aus eine Therapeutin suchen. Mir war völlig klar, dass es eine Frau sein muss. Man darf fünf verschiedene Therapeuten ausprobieren, bis man sich fest für einen entscheidet.
Seit acht Jahren, dreimal die Woche, gehe ich zu ihr. Ich liebe meine Therapeutin über alles. Ohne sie wäre ich nicht mehr am Leben, zwanzigmal hätte ich mich in den letzten acht Jahren umgebracht. Wobei einmal ja schon reicht, um tot zu sein, wenn man es gut macht! Ohne sie hätte mein Mann mich verlassen, hundertmal, weil er ja denken musste, dass ich seinen Sohn hasse, so wie ich ihn früher behandelt habe. Sie hat schon so viel besser gemacht in meinem Leben. Seit ich sie habe, habe ich auch diese schreckliche Phantasie, dass ihr was zustoßen könnte. Natürlich auch ganz stark aus egoistischen Gründen. Ich möchte das alles nicht noch mal jahrelang jemandem erzählen müssen, bis er auf dem gleichen Stand ist wie sie jetzt. Ihr Gehirn ist ja eine riesige Psychogeschichtenfüttermaschine. Wie ein großes Gemälde, an dem ich schon seit acht Jahren jede Woche drei Stunden lang male. Und ich mag sie, auch deswegen darf ihr nichts zustoßen. Ich mag sie, obwohl ich nichts weiß über sie.
Nichts weiß ich. Vor einiger Zeit sagte sie einige Stunden ab, was aus Patientensicht sowieso eine Unverschämtheit ist. Mit der Begründung: Sie habe bald einen Eingriff . Ich bin fast in Ohnmacht gekippt. Ein Eingriff? Klar, Krebs. Sonst sagt man nicht Eingriff. Alles klar. Und zwar bestimmt Gebärmutterkrebs. Was soll Eingriff denn sonst heißen? Sie
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