Schossgebete
musste gar nicht weitersprechen, sie hat Gebärmutterhalskrebs, ich bin mir sicher, hundertprozentig sicher, sie wird ganz elendig daran zugrunde gehen, und ich kann nicht zu ihr ins Krankenhaus, damit sie wenigstens meine Stunden noch weitermachen kann. Damit sie mich, bevor sie selber ins Gras beißt, als halbwegs geheilt entlassen kann. Das klingt jetzt sehr egoistisch, aber das ist das Wesen der Therapie. Ich kann ihr schlecht irgendwas geben. Ich darf nicht. Ich darf nicht mal ein Stück selbst gebackenen Kuchen mitbringen. Der Therapeut darf es nicht annehmen, es könnte ja vergiftet sein. Keine Geschenke, keine Geburtstagseinladung. Alles schon probiert.
Es ist ja gar kein Geheimnis, dass ich sie habe, alle Freunde wissen von ihr, trotzdem würde sie nie auf eine Feier von mir kommen. Schade. Und ich habe sie auch noch nie in der Stadt getroffen, wie Tony Soprano seine Dr. Melfi zufällig in diesem Mafiarestaurant trifft und sie dann ihren Mann volllügen muss, woher sie diesen Mann kennt. Was für ein dummer Ehemann eigentlich, da noch nachzufragen, er bringt sie doch wegen ihrem Schweigegelübde, oder wie das bei Klapsendoktoren heißt, voll in Bedrängnis. Der muß doch wissen, dass jede Person, die sie grüßt und er nicht kennt, ein potenzieller Verrückter aus der Praxis ist.
Ich weiß nicht mal, ob Frau Drescher in unserer Stadt lebt. Sie erzählt ja nichts über sich, weiß aber von mir ganz genau, wie ich mich befriedige, wann es sexuell zwischen mir und meinem Mann gut läuft und wann nicht. Ganz schön unfair!
»Was meinen Sie, Eingriff ?«
»Nichts Schlimmes, machen Sie sich keine Sorgen, Frau Kiehl, wirklich nichts Schlimmes.«
Würde die ganz sicher auch bei was ganz Schlimmem sagen. Außerdem weiß man doch oft nicht vor dem Rausschneiden, ob das schlimm ist oder nicht. Das kommt doch oft viel später, das Ergebnis. Sie muss aber weiter stabil und locker und beruhigend wirken, da würde sie nie zusammenbrechen und sagen: »Ja, ich habe so eine Angst, ich mache mir Sorgen, dass meine vier fettleibigen Kinder mit ihrer anderen Mutter ohne mich weiterleben müssen. Sie ist doch so eine schlechte Mutter, es war so ein Fehler, mit ihr diese Kinder durch eine künstliche Befruchtung mit dem Samen ihres Bruders zu bekommen, nur damit die DNA so nah wie möglich dran ist an ihr.« Niemals würde sie so mit mir sprechen, leider. Aber insgeheim weiß ich, dass ihr Leben so ist, wie ich es mir vorstelle, ich spüre das, die Arme.
Und ich wäre so gerne ihre beste Patientin. Ich löse mich fast auf in dem Wunsch zu gefallen. Meinem Mann, meiner Therapeutin, meinem Kind, den Nachbarn, den Freunden. Der Kellnerin im Café. Bis nichts mehr von mir übrig bleibt.
Ich fahre mit dem Auto vor. Nicht mehr lange, und wir schaffen unser Auto auch ab. Wenn ich im Winter frühmorgens Auto fahre, starre ich die ganze Zeit auf all den Qualm, der den anderen aus dem Auspuff kommt, und denke, das kann doch gar nicht wahr sein, dass das überhaupt noch erlaubt ist heutzutage. Jeder fährt alleine im eigenen Auto zur Arbeit, alle verursachen Smog und Stau. Immer nur ein einziger Mensch in einem Riesenauto. Da kann ich mich manchmal nicht halten. Nur wenn die Kinder nicht im Auto sind und unter totalem Protest meines Mannes, steige ich manchmal an der roten Ampel aus, wenn ich so einen Benzinschlucker-Jeep vor mir habe, und lächle von draußen ins Auto, dass sie denken, ich will was Nettes sagen, oh, eine nette Frau, will mich bestimmt anbaggern, weil ich so ein geiles verschwenderisches Penisauto fahre. Und ich sage ihm dann, dass ich es eine Unverschämtheit finde, gegen die ganze Welt und die Menschheit, dass man sich heutzutage noch so ein Auto zulegt, das extra viel Benzin verbrennt.
Die müssen doch vollkommen geistesgestört sein, die Leute da drin, und ich denke, man kann die Welt nicht verändern, wenn man jedes Arschloch einfach ungestraft machen lässt, was es will. Also, mein Mann wird unser Auto abschaffen, weil ich es in mein Testament geschrieben habe, dass wir ohne leben müssen. Wir wollen, auch wenn ich tot bin, eine gute Umweltschützerfamilie sein.
Wenn ich schon das Hochhaus bei der Anfahrt sehe, kriege ich Zustände. Agnetha hat einen Parkplatz mit einem großen Schild: ARZT . Na toll! Wie peinlich. Damit jeder weiß, dass man verrückt ist, wenn man da drauffährt. Die ganzen Jahre, die ich jetzt bei ihr bin, schäme ich mich, auf diesen Parkplatz zu fahren. Habe ich ihr noch nie gesagt.
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