Schossgebete
wo er mit den engsten Mitarbeitern nach einer Art Kassensturz feiert und essen geht in einem bestimmten Lokal. Da würde es passieren. Ich stehe einige Meter entfernt, mache natürlich nicht meine Scheinwerfer am Auto an, der ganze Wagen ist voll mit Benzin, auf die Kanister auf der Rückbank male ich drei kleine Gesichter, eins mit Sommersprossen, eins mit leichten Segelohren, eins mit Brille, und ganz kurz bevor die Zeitungsleute alle aus dem Wagen aussteigen, rase ich auf sie zu. Manchmal träume ich, dass ich mitgehe, nur zur Sicherheit, um meinen Racheplan auch perfekt auszuführen. Und manchmal träume ich, dass ich es doch schaffe, wie ich es so oft trainiert habe, mit dem Backstein.«
»Das machen Sie mal schön nicht. In Wirklichkeit wollen Sie nicht sterben, Frau Kiehl, es kommt Ihnen nur manchmal alles ein bisschen viel vor.«
»Ja, ja, ist auch scheißegal, ob ich sterben will oder nicht, ich darf einfach nicht sterben, weil ich ein scheiß Kind habe. So einfach ist das. Es ist sehr unpraktisch, ein Kind zu haben, wenn man eigentlich die Welt von den Bösen befreien und in den Untergrund gehen will. Wenn die achtzehn ist, vielleicht dann?«
»Nein, Sie haben dann auch noch Ihren Mann.«
»Na, toll, der kann aber auf sich selber aufpassen. Und außerdem wäre er stolz auf mich. Glaub ich. Themenwechsel. Ich finde es schrecklich, dass mein Mann Angst hat vor mir, vor mir, wie ich früher, vor Ihrer Hilfe, war. Und könnte es nicht auch sein, dass ich deswegen unbedingt fremdgehen will, weil ich die Vorstellung so schön finde, ein bisschen neu anfangen zu dürfen? Jemandem mich neu erzählen? Wie ich jetzt bin? So! Das ist, glaube ich, eine große Sehnsucht von mir. Dass jemand mich bumst, der mich noch nie bei einem hässlichen Ausraster gesehen hat, dem ich noch nie die Hölle heißgemacht habe, wegen Sperma in der Socke oder sonst was Peinlichem. Sex mit jemandem haben, bei dem man noch nicht einen riesigen Beutel Beziehungsscherben hinter sich herschleppt.«
»Das kann schon sein, dass das Ihre Sehnsucht ist. Ich glaube aber, dass Sie sich nachher anders fühlen, als Sie sich das jetzt vorstellen. Sie werden geplagt werden von schlechtem Gewissen. Wenn Sie es heimlich machen, werden Sie es trotzdem durch Ihr Verhalten verraten. Ihr Mann wird es spüren, das verändert nämlich sehr, im Umgang miteinander. Und Sie wissen ja auch, was ich von der Idee des Einweihens halte.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber wir könnten das doch hinkriegen. Ich glaube da ganz fest dran, dass das geht, mit dem erlaubten Fremdgehen. Irgendwann kriegen wir das hin. Ich bin fest davon überzeugt, dass das eine Einstellungssache ist. Georg ist ja leider noch nicht so weit. Aber irgendwann habe ich ihn da, wo er hin soll. Haben wir noch was Zeit?«
»Ja, wir haben noch Zeit.«
»Gut. Ich wollte was Blödes mit Ihnen besprechen. Ich wollte es schon lange mit Ihnen besprechen. Aber ich habe mich bis jetzt nicht getraut. Also, raus damit, oder?«
»Selbstverständlich, raus damit! Sie wissen ja, es bleibt alles in diesen vier Wänden. Nichts wird weitererzählt, Schweigepflicht, Sie kennen das ja.«
»Ja, also, da saßen wir auf dem Weg von irgendeiner Familienfeier, da war ich in dem Alter, wo grad das Drüsengewebe hinter dem Nippel anfängt zu wachsen. Was weiß ich, zwölf, dreizehn? Und ich saß nichts ahnend neben meinem Onkel, und er hatte betrunken wie fast immer seinen Arm um mich gelegt. Bis dahin alles in Ordnung. Dann wanderte seine Hand aber weiter runter von der Schulter, weiter runter zur Brust, und er kniff zwischen seinem großen Zeigefinger und seinem großen Daumen meine kleine wachsende Milchdrüse und rieb sie zwischen seinen Fingern hin und her. Als wenn er einen großen Pickel ausdrücken wollte. Ich dachte zuerst, das ist doch grad nur Zufall, dass seine Hand da ist, und dann ein paar Minuten später wusste ich: Das, was grad hier passiert, ist absolut nicht in Ordnung. Das darf der nicht, das gibt mir ein ganz schlechtes Gefühl. Ich habe es nie irgendjemandem erzählt, nicht meiner Mutter, nicht meinen Geschwistern, nicht meinem Mann, nur Ihnen jetzt.
Komisch, jetzt fällt mir auch noch eine Spielplatzerfahrung ein. Da waren die kleinen Jungs, die wollten alle die Mädchen küssen, und bei uns Kindern hatte sich das so eingebürgert, wenn sie ein Mädchen küssen wollten, mussten sie dafür bezahlen. Unsere Spielplatzwährung waren ›Mon Chéries‹. Ein ›Mon Chérie‹, ein Kuss. Aber richtig
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