Schottische Disteln
von Dudelsäcken und Schottenröcken.
V
Ryan fuhr langsam über die schmalen Landstraßen. Jetzt im August gab es viel Wildwechsel, und gerade die Jungtiere sprangen achtlos hin und her auf der Suche nach den Müttern. Kurz vor einer kleinen, aber unübersichtlichen Kreuzung bremste er. Es kam ihm vor, als sei ein eiskalter Schatten an ihm vorbeigeflogen. Der Motorradfahrer auf seiner schweren und sehr leisen Maschine vielleicht? Für einen Augenblick überzog ein Frösteln seinen Körper.
Als er die Kreuzung erreichte, sah Ryan mitten auf der Gabelung ein weißes Knäuel liegen, ein gefährliches Hindernis für jeden Autofahrer, der hier schnell um die Kurve kam. Er stellte den Wagen ab, nahm seinen Revolver vom Beifahrersitz, stieg aus und besah sich im Scheinwerferlicht das Knäuel. Seine Ahnung bestätigte sich. Vor ihm lag ein totes Schaf. Der Kopf fehlte, er war nirgends zu sehen. Einen Augenblick kämpfte Ryan mit aufsteigender Übelkeit, dann zog er den Kadaver an den Beinen zum Straßenrand. Das Tier war noch warm, der Unhold hatte sein Werk anscheinend gerade beendet, vielleicht war er von ihm gestört worden.
Ryan sah sich um. Alles war still, sogar der Wind hatte sich gelegt. Langsam ging er zu seinem Wagen zurück, die entsicherte Waffe in der Hand. Schließlich stieg er ein und fuhr weiter. Es hatte keinen Zweck umzukehren und die Männer zu benachrichtigen. Es war besser, so schnell wie möglich die Funkgeräte zu besorgen und dann mit allen zusammen auf die Jagd nach diesem Teufel zu gehen.
In Forres erreichte er die A 96, auf der er bis Aberdeen durchfahren konnte. Er musste zunächst nach Hause und sich umziehen. In seinem Schäferdress wollte er nicht in der Werft erscheinen. Die Fahrt verlief reibungslos, nur einmal hatte er einen Lastwagenkonvoi vor sich, an dem er nicht vorbeikam. Mit seinem Jaguar wäre das Überholen eine Sache von Sekunden gewesen, aber mit dem behäbigen Landrover konnte er kein Risiko eingehen und musste bis zur nächsten Ortsdurchfahrt warten, um zu überholen. So brauchte er mehr als zwei Stunden für die achtzig Kilometer und sah, dass es im Osten schon dämmerte, als er durch Aberdeen fuhr und dann im Süden wieder hinaus, um ans Ufer des Dee zu kommen, wo sein Anwesen lag.
Das hohe, kunstvoll geschmiedete Tor stand weit offen. Die Kinder, die jetzt hier lebten, sollten nie den Eindruck haben, eingesperrt zu sein. Gleich nach der Durchfahrt lenkte Ryan nach links und hielt kurz darauf an dem etwas versteckt liegenden Kutscherhaus. Er stellte den Wagen ab und läutete. Wenig später ging Licht im Haus und über der Eingangstür an, und James, sein Hausverwalter, sah durch das Türgitter, bevor er öffnete.
»Sir, ich wusste gar nicht, dass Sie kommen wollten. Entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat, aber wir haben noch geschlafen.«
»Schon gut, James, erstens habe ich mich nicht angemeldet, und zweitens ist es erst fünf Uhr. Ich muss mich entschuldigen. Wäre es möglich, dass Mary mir in einer halben Stunde ein kräftiges Frühstück richtet? Ich habe seit gestern Mittag nichts gegessen.«
Mary war James‘ Frau.
»Selbstverständlich, Sir. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Legen Sie mir einen leichten Sommeranzug mit allem Drum und Dran heraus, ich gehe erst einmal duschen.«
Ryan ging durch die große Empfangshalle, die früher einmal Remise für elegante Kutschen war, dann jahrelang Autos beherbergt hatte und nun zu einem großen Salon umfunktioniert worden war. Trotz der Größe war es ein gemütlicher Raum. Dafür sorgten die antiken Stilmöbel, die er aus dem Castle mitgebracht hatte, die erlesenen Teppiche, die zahlreichen, harmonisch aufeinander abgestimmten Lampen, die James jetzt alle angemacht hatte, und die dezenten Vorhangstoffe, die die französischen Fenster umrahmten. Oben in seinem Ankleidezimmer streifte Ryan die verstaubten Camel-Boots, die schmuddeligen Drillichhosen und das verschwitzte Baumwollhemd ab. Seit der Kaninchenjagd hatte er sich weder gewaschen noch umgezogen und konnte sich selbst nicht mehr riechen. Er sah in den Spiegel, und was er sah, gefiel ihm nicht. Ringe um die Augen, die leicht gebogene, von der Sonne gerötete Nase, eine Haut, die sein Alter sehr deutlich verriet und Sorgenfalten auf der Stirn – von Erholung war da noch nichts zu sehen. Er stellte sich unter die Dusche und ließ erst heißes, dann eiskaltes Wasser auf seinen Körper prasseln. Der harte Strahl des Wassers wusch nicht nur
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