Schottische Disteln
gestern, als Sie die alten Sachen vom Trödelmarkt retten wollten?«
»Ach Ryan, das sind Träume, wirklich nur Träume.«
»Und wenn Sie die Chance hätten, Sie umzusetzen? Wie würden Sie es anfangen?«
»Ganz klein und bescheiden. Ich würde mir einen Studenten von der Kunstakademie suchen, der schon praktische Erfahrung hat und gern ein bisschen Geld verdienen würde. Der müsste die Sachen restaurieren. Und dann würde ich mir einen zusammenklappbaren Malertisch suchen, bei jedem Antikmarkt einen kleinen Stand anmelden und die Sachen anbieten.«
»Und wie bekämen Sie das Zeug nach Hamburg?«
»Mit meinem Auto natürlich. Ich sagte doch, ich würde das erst mal auf ganz kleiner Basis machen.« Sie lachte. »Später, wenn ich groß im Geschäft bin, würde ich vielleicht einen kleinen Laden mieten und einen Pferdetransporter nehmen.« Sie sah ihn grinsend an.
Aber Ryan blieb ernst: »Und was würde Ihre Sachen von anderen unterscheiden? Alten Kram gibt es überall.«
»Einmal die Tatsache, dass die Antiquitäten hier von der Insel kommen, jedes Land hat seine Originale, und dann natürlich ihr Kennzeichen.«
»Und was wäre das?«
»Schottische Disteln natürlich: eingebrannt, eingekerbt, aufgezeichnet oder als Aufkleber, mal sehen, was am besten ist. Träumereien, Ryan«, lachte sie und fasste seine Hand.
Aber Ryan hatte plötzlich eine Idee: Er wollte, dass sie diesen Traum weiterverfolgte, denn der würde sie wieder in die Highlands zurückbringen. Er würde nicht locker lassen, es war die Möglichkeit, sie wieder zu sehen, sie in der Nähe zu haben. Eine großartige Idee, dachte er und legte den Arm um ihre Schultern. »Andrea, Träume können wahr werden. Ich denke, wir sollten uns jetzt einmal küssen.«
Sie sah ihn einen Augenblick erstaunt an, dann nickte sie. »Ja, weshalb eigentlich nicht?«
»Dann werden wir jetzt mit einem Kuss unsere Träume besiegeln.«
Während sie ungläubig den Kopf schüttelte, nahm er sie in den Arm und suchte mit großer Zärtlichkeit ihre Lippen. Als sie Hand in Hand weitergingen, dachte Andrea über diesen Kuss nach. Es war ein guter Kuss, nicht stürmisch und auch nicht erotisch, er verlangte nichts, und er versprach nichts: ein guter Kuss. Sie lächelte, einfach ein guter Kuss.
X
Peter Erasmus in Hamburg war unruhig. Sorge, ja Angst führte ihn bis an den Rand des Erträglichen. Wäre er ein anderer Mensch gewesen und nicht dieser Phlegmatiker, wäre er explodiert: Seit sechs Tagen hatte er nichts von Andrea gehört, seit sechs Tagen wartete er auf einen Anruf, auf ein Zeichen, irgendeinen Hinweis, dass es ihr gut ging. Er machte sich Sorgen um sie, und er hatte Angst, sie zu verlieren. Er liebte sie, also durfte er besorgt sein und ängstlich.
Er hätte sie so gern begleitet, aber sie wollte es nicht, er hätte gern wenigstens einmal am Tag mit ihr telefoniert, aber er hatte keine Telefonnummer. Jetzt war er so weit, dass er ihr nachfahren wollte, aber er wusste nicht wohin. Was er allerdings genau wusste, war, dass sie genau das nicht wollte: dieses Nachfahren, dieses Besitzergreifen. Weshalb nur? Warum ließ sie sich nicht etwas verwöhnen, warum durfte er ihr nicht hin und wieder helfen? Was hatte sie gegen seine Nähe und gegen sein Geld? Er war nie aufdringlich oder lästig, er forderte nichts, er wollte nur geben, warum durfte er das nicht? Und nun, an diesem Wochenende, hatte er das ganz bestimmte Gefühl, dass Andrea ihn brauchte, dass sie sich in Gefahr befand und dass sie mit großen Problemen fertig werden musste. Seit Samstag früh saß er in der Nähe des Telefons und schreckte bei jedem Klingeln an der Haustür zusammen. Er war Anne gegenüber unbeherrscht und Fremden gegenüber missgelaunt.
Anne kannte solche Zeiten, sie wusste, dass ihr einstiger Zögling unausstehlich wurde, wenn er sich selbst nicht mehr helfen konnte. Sie wusste aber auch, dass er nicht aus seiner Haut herauskonnte, und sie hatte oft Angst um ihn, wenn ihn seine Gefühle überwältigten. Es war kein Wunder, dass er trotz seines guten Aussehens, seines Geldes und trotz seiner gesellschaftlichen Stellung noch keine Frau gefunden hatte.
Schon als Kind war er verschlossen gewesen. Er weinte nie, er lachte aber auch nie. Als sie seine Betreuung übernahm, war er gerade in die Schule gekommen. Er war ein gut aussehender Junge, aber sein ganzes Wesen war damals schon von Schüchternheit und Hemmungen geprägt. Seine Eltern hatten es nicht verstanden, dem Einzelkind
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