Schottische Disteln
will?«
»Nein, das wusste er selbst nicht. Er ist heute Morgen abgeflogen und wird inzwischen in Richtung Inverness unterwegs sein.«
»Hm, was soll ich dazu sagen? Ich wollte die Reise nicht mit ihm machen, und das hatte ich ihm auch zu verstehen gegeben. Dann muss ich mich wohl bei Mark melden, damit er ihm sagt, wo ich wann bin. Warum ist er denn plötzlich so beunruhigt?«
»Keine Ahnung. Und wie geht es dir so? Ist die Fahrt sehr anstrengend? Lernst du auch ein paar nette Leute kennen?«
Andrea dachte an die »Leute« und sah Ryan vor sich.
»O ja, sehr nette Typen, die reinsten Originale. Da gibt‘s einen Schäfer, der hat es mir angetan«, kicherte sie, und Inken drohte: »Pass bloß auf, Schäfer sollen es in sich haben.«
»Und woher weißt du das?«
»Ich denk‘s mir halt. Die Einsamkeit und die viele frische Luft, die robuste Natur ...«
Andrea lachte laut. »Nun hör aber auf, so ein Unsinn. Dieser Schäfer ist ein höflicher Mann, der sich gut benehmen kann, wenn er auch meist nach Schafen stinkt.«
»Hast du Fotos von ihm?«
»Natürlich, so viel Ursprünglichkeit kann ich mir doch nicht entgehen lassen.«
»Na schön, solange du diese Ursprünglichkeit nur mit der Linse festhältst, bin ich einverstanden. Aber ich denke, es ist gut, dass Herr Erasmus auf dem Weg nach Norden ist.«
»Unsinn. Trotzdem, vielen Dank, dass du‘s mir gesagt hast. So bin ich vorgewarnt. Ich werde jetzt Mark anrufen, und dann sehen wir weiter.«
»Ciao, Andrea, komm heil und gesund wieder.«
»Das mache ich.«
Andrea legte auf. So ein Blödsinn, wieso war Peter denn plötzlich um sie besorgt, so besorgt, dass er sich in den erstbesten Flieger setzte und ihr nachreiste? Oder gab es doch so etwas wie Gedankenübertragung? Hatte er gespürt, dass sie kurz davor war, sich ernsthaft in einen anderen Mann zu verlieben?
Sie rief in Edinburgh an, konnte aber weder Mark noch seinen Vater erreichen und ließ nur ausrichten, dass sie im Zeitplan war und wo sie sich befand. Dann nahm sie die Straßenkarte und studierte den Rückweg. Sie konnte die gleiche Strecke zurückfahren, aber das machte keinen Spaß. Es gab noch eine andere Möglichkeit mit einem Umweg in Richtung Süden. Die Straßen waren nur noch als Schotterwege eingezeichnet, aber immerhin hatte sie einen Geländewagen, und weshalb sollte sie nicht auch ein bisschen abseits der Touristenpfade herumstöbern. Es war früher Nachmittag, und sie hatte Zeit genug. Zu ihrer Verabredung mit Ryan würde sie mit Sicherheit zurück sein.
Die Wege waren wirklich schlecht. Andrea musste nicht nur vorsichtig fahren, sie musste auch oft aussteigen, Gatter öffnen, durchfahren und wieder schließen, sie rollte über Eisenroste, die das Vieh davon abhalten sollten, über die Straße von einer Weide auf die andere zu laufen, und mehrmals musste sie sich mit Gehupe den Weg mitten durch Schafherden bahnen. Aber sie kam auch durch eine wunderschöne, unberührte Landschaft.
Einmal führte der Weg durch ein verfallenes Dorf. Mauerreste zeigten an, wo vor vielen Jahren Häuser gestanden und Menschen gewohnt hatten. Etwas entfernt von den zerfallenen Gehöften sah sie eine Ruine, und als sie näher kam, erkannte sie die alten Mauern einer Kirche mit einer Abtei im Hintergrund. Sie hielt an, nahm ihre Fotoapparate und ging die etwa hundert Meter zu Fuß. Das Gelände war mit Findlingsblöcken übersät, und sie wollte keinen Achsenbruch riskieren. Als sie näher kam, sah sie, dass sie wunderbare Gegenlichtaufnahmen durch die alten Rundbögen der Ruine machen konnte. Die Sonne stand genau im richtigen Winkel, und Andrea beeilte sich mit der Arbeit. Dann fand sie Reste eines Bleiglasfensters und erkannte in dem farbigen Glas die Fragmente weißer und goldener Lilien – ein einmaliges Motiv mit dem blauen Himmel im Hintergrund. Sie kletterte über Mauerreste und durch Erdspalten, erklomm die Krone eines kleinen Rundbogens, machte ihre Fotos und geriet beim Absprung mit einem Bein in eine von Gras überwucherte Spalte zwischen Mauerbrocken. Nur darauf bedacht, die umgehängten Fotoapparate mit beiden Händen zu schützen, stützte sie sich nicht ab und prallte mit dem Kopf gegen einen Stein.
Als Andrea wieder zu sich kam, ging die Sonne im Westen unter. Benommen befühlte sie den schmerzenden Kopf und fand eine verkrustete Narbe, die aber nicht mehr blutete. Sie richtete sich langsam auf, alles drehte sich vor ihren Augen. Dann spürte sie, dass sie ihr linkes Bein nicht bewegen
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