Schottische Engel: Roman (German Edition)
Haut, an der die sonnenlosen Winterwochen Schuld waren, machten sie nicht gerade attraktiv. Zum Glück hatte sie eine gute Figur. Hochgewachsen, aber mit den entsprechenden Proportionen an den richtigen Stellen wirkte sie damenhaft und sportlich zugleich. Von dem Schlankheitswahn der dürren Mannequins, die mit Untergewicht, Essstörungen und staksigen Beinen über die Laufstege stampften und mit mürrischen Blicken die amüsierten Kunden betrachteten, hielt sie gar nichts.
Mary drehte ihre langen Haare zu einer Rolle zusammen und steckte sie am Hinterkopf fest. Rechts und links ließ sie ein paar Strähnchen über die Ohren gleiten, das nahm der Frisur ihre Strenge und wirkte auf dezente Art verspielt. Auf Schminke verzichtete sie. Rouge, Puder und Lippenstift hatten zusammen mit anderen Make-up-Utensilien unter dem Wasser im Beautycase gelitten.
Unten in der Halle ertönte ein Gong. Türen wurden geöffnet und geschlossen, Stimmen wurden laut. Es wurde gelacht, gerufen, geantwortet. Stimmen? Woher kamen plötzlich so viele Stimmen? In den vergangenen Tagen war das Haus wie ausgestorben gewesen. Was war inzwischen passiert? Woher kamen all die Leute? ›Gestern hat David über zwei Besucher geklagt, die er sofort wegschicken wollte, und heute scheint das Haus voll zu sein‹, überlegte sie und schaute aus dem Fenster. In der Einfahrt rund um das Rondell standen zehn oder mehr Wagen. Vom Mini bis zum Roadster war alles vertreten, was zurzeit als up to date auf dem Automobilmarkt galt. Nach einigem Suchen sah sie sogar ihren Landrover. Soweit sie erkennen konnte, sah er unbeschädigt und sauber aus. Dann hatte David also Wort gehalten. Sie schloss das Fenster wieder und wandte sich der Tür zu. Im gleichen Augenblick klopfte es.
Auf ihr »Herein« betrat David McClay das Zimmer.
»Es gibt einen Lunch, Mary, ich wollte dich abholen.«
»Danke. Ich habe heute total verschlafen, Hanna hat mich erst vor Kurzem geweckt, aber jetzt bin ich fertig.«
»Ich hatte dich beim Frühstück vermisst, aber dann hat mich diese Lawine überrollt, und ich bin zu nichts mehr gekommen.«
»Und was für eine Lawine ist das?«
»Menschen, die ich um nichts in der Welt hier sehen wollte. Der halbe Tross vom Set in Galashiels, wo gerade gedreht wird.«
»Und nun stören Sie dich.«
»Ein Teil streikt, ein anderer fühlt sich missverstanden, und der dritte Teil verlangt Änderungen. Und den ganzen Ärger wollen sie hier austragen, weil sie erfahren haben, dass ich ausnahmsweise zu Hause bin.«
»Wirst du sie alle zufriedenstellen können?«
»Selbstverständlich. Ich bezahle sie schließlich. Aber jetzt komm, ich möchte der Köchin nicht die Laune verderben, und mit dir an meiner Seite kann alles nur halb so schlimm werden.«
Sie verließen das Zimmer und wandten sich der breiten Treppe zu. Unten in der Halle wimmelte es von Menschen. David McClay hielt Mary am Arm zurück. »Schau sie dir an: Die Schauspieler – gestylt und abgehoben sitzen sie in den Sesseln. Da drüben stehen die beiden Regisseure, die Bühnenbildner und die Toningenieure. Da hinten an der Terrassentür, das sind die Friseure, Maskenbildner und die Kostümschneider. Und daneben, fast verdeckt, zwei Drehbuchautoren, die immer noch heftig streiten, mehrere Kameramänner, Beleuchter, Skriptgirls und Logistiker. Und die muss ich heute noch alle unter einen Hut bringen. Zwei Tage Drehpause kann ich mir nicht leisten. Jede Minute kostet viel Geld.«
»Um was geht es denn?«, flüsterte Mary, während sie die Treppe hinuntergingen.«
»Keine Ahnung, aber wir werden es nach dem Essen erfahren.«
Sophie, die Köchin, hatte ein meterlanges Büfett aufgebaut. Von Porridge bis zu Rührei mit Schinken, von heißer Gulaschsuppe und frischem Brot bis zu Wurst- und Käseplatten, von Muffins bis zum Plumpudding fehlte es an nichts. Sogar Brownies, ihre Lieblingskuchen, waren aufgetragen, wie Mary mit Vergnügen feststellte. Noch einmal ertönte ein Gong. Der Lord klatschte in die Hände und rief: »Kommen Sie zum Lunch, bevor alles kalt wird und die Köchin mir den Krieg erklärt. Wenn Sie schon hier einfallen wie ein Schwarm hungriger Vögel, dann sollten Sie wenigstens den Frieden in diesem Hause respektieren. Nehmen Sie Platz, reden werden wir später.«
Die Stimmen wurden leiser, alle versammelten sich um das Büfett, und die, die ihre Teller gefüllt hatten, setzten sich.
Zwei Hausmädchen servierten Tee, Kaffee, Mineralwasser und Bier und räumten benutzte Teller
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