Schottlands Wächter (German Edition)
reinigte sie und steckte sie in eine lederne Umhängetasche.
„Wann immer du hungrig bist, nimm diese Schale zur Hand und sie wird sich mit Suppe füllen.” Sie steckte auch Kaylees Schale in die Tasche, dann deutete sie auf den großen Kessel. „Und nun kommt und seht die Cailleach.”
Die Frauen, Bryanna und Kaylee beugten sich vor und sahen in die Suppe. Zuerst kam es Bryanna ziemlich dumm vor, auf Gemüse und Fleisch zu starren, doch dann begann die Suppe, sich immer schneller zu drehten. Schließlich entstand in dem Wirbeln ein Bild.
Eine hagere, große Frau in einem weißen Gewand schritt über die Hügel Schottlands. Es war die Cailleach. Ihr Gesicht war blau, wie der Himmel über ihr, die grauen Haare zu einem strengen Knoten gedreht. Feine Linien um Mund, Nase und Augen verrieten, dass sie nicht mehr jung war. Sie ging leicht gebeugt und auf einen knotigen Stab gestützt. Wo der Stab den Boden berührte, verwelkte das Gras, erfroren Blumen und Blätter. Sie ging zu einer Quelle, beugte sich hinab und trank einen Schluck Wasser. Dann sah sie Bryanna direkt in die Augen. Unter ihrem prüfenden Blick verwandelte sich Bryannas Blut in Eis. Sie vergaß die Frage, wie die Cailleach sie sehen konnte, vergaß wo sie war und wie sie hieß, und warum sie gekommen war. Sie war erstarrt … erfroren … innerlich tot.
Nach einem Augenblick der Bryanna endlos vorkam, wendete sich die Cailleach von ihr ab. Sie legte ihren Stab unter einen Holunderstrauch, setzte sich ins Gras und wartete.
Bryanna spürte, dass etwas Wunderbares geschehen würde. Ihr eingefrorenes Herz schmerzte, denn es hätte gern heftig geklopft. Atemlos wartete Bryanna auf ein Wunder. Und wirklich. Das Gesicht der Cailleach veränderte sich, wurde glatter, jünger. Ihr Körper straffte sich und das Kleid wurde bunt. Die verjüngte Frau öffnete den Haarknoten und eine Flut rotgoldener Wellen ergoss sich über ihren Rücken. Sie lehnte sich zurück, stützte sich auf die Arme und sah Bryanna an. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Göttin, das Bryanna schlagartig zu neuem Leben erweckte.
„Du stehst unter meinem Schutz, Kind”, sagte die Göttin. „Solange du daran festhältst, wird dir kein Schaden widerfahren.” Sie sprang auf und tanzte über die Wiese. Bei jedem ihrer Schritte schossen Blumen empor und grünte das Gras. Bryannas Herz sang vor Freude.
„Bride ist wieder da”, sagte eine der neun Frauen. Das Bild im Kessel verschwand und Bryanna fühlte sich, als hätte sie etwas Wertvolles verloren. Trotzdem war sie nicht traurig, denn Bride war zurück. Nun würde es Frühling werden, auch wenn sie ihr nicht beim Tanzen zusehen konnte. Bryanna juckte es in den Füßen selbst zu tanzen.
„Lasst uns gehen”, sagte eine der Frauen und zog den Kessel zur Seite. Eine andere erstickte das Feuer mit Asche. Nun war es vollkommen dunkel im Haus. Eine dritte Frau nahm Bryannas linke und eine vierte ihre rechte Hand. Die Tür wurde geöffnet und in einer langen Reihe gingen die Frauen gemeinsam hinaus.
Die Sonne war längst untergegangen und der volle Mond warf sein silbernes Licht auf den Weg. Mit langsamen Schritten zogen die Frauen den Berg hinauf. Bryanna vermisste ihre Jacke, die noch in der Hütte lag, denn es war empfindlich kühl. Bald spürte sie die Kälte nicht mehr, denn die Frauen gingen zügig, so dass ihr schnell warm wurde. Die Nacht war klar und die Sterne funkelten zum Greifen nah. Bryanna fühlte sich, als würde sie über dem Boden schweben.
Nach etwa einer Viertelstunde erfüllte ein Pochen die Nacht — leise, rhythmisch, endlos. Es klang wie das Herz der Erde. Wenig später entdeckte sie zwei Schatten auf der Hügelkuppe, die sich gegen den dunklen Himmel abhoben. Es waren zwei riesige Scheiterhaufen. Im Silberlicht des Mondes erkannte sie neben den Holzstößen Männer, Frauen und Kinder in einfacher Kleidung, die reglos und still auf die weisen Frauen warteten.
Der Herzschlag der Erde wurde lauter, je näher sie den Wartenden kamen. Obwohl Bryanna ahnte, dass es nur eine Trommel war, durchdrangen sie die Töne und ihr Herzschlag passte sich dem Rhythmus an. Irgendwo in der Dunkelheit muhte und blökte es, aber Tiere waren nicht zu sehen.
Schließlich erreichte der Zug der neun Frauen und ihrer Gäste die schweigenden Menschen. Bryanna hielt sie für Bauern aus den umliegenden Dörfern. Ein Mann trat vor und begrüßte die weisen Frauen. Er verbeugte sich, zeigte auf den Holzstoß und sagte: „Es ist ein
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