Schottlands Wächter (German Edition)
setzte sich schweigend, aber dankbar, denn ihre Knie zitterten immer noch. Ihr Hals schmerzte so sehr, dass es ihr besser erschien, im Moment nicht zu sprechen. Die Frau nahm rechts neben ihr Platz und reichte ihr eine Schale mit klarem Wasser. Bryanna trank, was ihrem wunden Hals sofort Linderung brachte.
Kaylee schloss den Kreis, indem sie sich auf den letzten freien Holzklotz setzte. Die junge Frau, die sie empfangen hatte, begrüßte die beiden Mädchen freundlich und sagte: „Noch nie sah ich so viele Redcaps gemeinsam jagen.”
„Sie waren ungewöhnlich weit fort von ihren Burgen”, fügte eine andere junge Frau hinzu. „Was sie hier wohl wollten?”
Bryanna zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich bin einer Frau gefolgt, die meinen Vater entführt hat und dabei bin ich irgendwie hierher geraten.”
Die Frau neben ihr legte ihre Hand auf Bryannas Schulter und sagte: „Sorge dich nicht um Morag. Ihr geht es gut.”
„Es ist mir egal, wie sich Morag fühlt. Ich will wissen, wie es meinem Vater geht.” Trotz ihres Ausbruchs fragte sich Bryanna, woher die Frau wusste, dass sie Morag suchte.
Die Frau lächelte. „Er kann gut auf sich selbst aufpassen. Sieh her und lerne, denn heute ist Beltaine.”
„Was? Es ist schon Beltaine?” Kaylee fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. „Vater wird böse sein, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.”
„Im Moment hat dein Vater ganz andere Sorgen, Kaylee von Pityoulish”, sagte eine der Frauen in scharfem Ton. „Sei froh, dass wir dich in unserer Mitte dulden und schweig!”
Kaylee schloss den Mund, aber ihre Augen funkelten wütend.
Die Frau, die sie empfangen hatte, sagte: „Habt Frieden, denn heute ist Beltaine.” Sie hob einen Ebereschenzweig auf.
Endlich wurde Bryanna klar, dass die Frauen darauf gewartet hatten, mit ihrem Ritual zum Frühlingsanfang zu beginnen. Gespannt sah sie zu, wie die junge Frau den Ebereschenzweig in ihren Händen drehte und flüsternd mit ihm sprach. Dieses Ritual war ihr fremd. Sie kannte nur die laute Fröhlichkeit der Beltaine-Feuer, aus denen in christlichen Zeiten das Osterfeuer geworden war. Wie schade, dass das Wechselspiel der Göttinnen des Winters und des Sommers für die meisten Menschen heutzutage unbekannt ist. Dabei ist es doch sehr spannend, die alten Bräuche mitzuerleben , dachte Bryanna.
Die junge Frau strich Bryanna mit dem Ebereschenzweig über das Gesicht und sagte: „Cailleach legt ihren Stab aus der Hand und Bride kehrt zurück. Lasst uns beginnen.” Sie reichte den Zweig an die Frau auf Bryannas linker Seite weiter und fügte hinzu: „Alles was geschieht, hat seine eigene Zeit.”
Die zweite Frau legte einen anderen Ebereschenzweig dazu und wand ein Stück rotes Band darum. Dazu sagte sie: „Trinke bevor du isst” und reichte die Zweige weiter. So wanderte das Sträußchen von Hand zu Hand und jede Frau band einen weiteren Zweig mit dem roten Faden daran fest und sagte ihren Teil des Spruchs dazu.
„Iß bevor du schaust.”
„Schau bevor du denkst.”
„Denk bevor du fragst.”
„Frag wenn du lernst.”
„Lerne um zu leben.”
„Lebe um zu lernen.”
„Denn heute ist Beltaine.”
Der Spruch war Bryanna fremd. Es überraschte sie, wie viel Weisheit in den knappen Worten steckte. Erst wenn die leiblichen Bedürfnisse gestillt sind, ist der Verstand frei zu Lernen . Sie nickte den Frauen in der Runde nacheinander zu und lächelte.
Als der Strauß fertig gebunden war, hängte ihn die letzte Frau Bryanna mit einem roten Samtband um den Hals. Sie nahm eine Tonschale, füllte sie mit Suppe aus dem großen Topf und reichte sie Bryanna. Bryanna bedankte sich und fragte: „Und Kaylee?”
Die Frau sah nacheinander ihre Kameradinnen an und eine nach der anderen nickte. Noch einmal banden sie einen Strauß aus Eberesche und rotem Garn, hängten ihn Kaylee um den Hals und reichten ihr eine Schale mit Suppe.
Die Wärme der Suppe füllte Bryannas knurrenden Magen. Die Suppe schmeckte ihr so gut wie noch nichts zuvor in ihrem Leben und sie hätte das Rezept gern gekannt. Sie erkannte nur die Hafergraupen und ein paar Kräuter. Obwohl die Schale sehr klein war, konnte sich Bryanna satt essen. Sie wunderte sich nur kurz darüber. In Alba schien vieles möglich zu sein, was ihr daheim wie Zauberei vorgekommen wäre.
Ein Blick aus den Augenwinkeln zeigte ihr, dass auch Kaylee tüchtig zulangte. Als sie die Schale gesättigt aus der Hand legte, nahm sie eine der Frauen,
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