Schottlands Wächter (German Edition)
Hundskamille roch nach frisch gemähter Wiese, doch von der echten Kamille stieg ein würzigerer Duft auf. Bryanna spürte, wie sich das Aussehen und der Duft der Pflanze zu ihrem neuen Wissen gesellte und dort festsetzte.
Annie griff nach einer weiteren Pflanze und fuhr mit dem Unterricht fort. Mehrere Stunden lernten Bryanna und Kaylee Heilpflanzen und deren Wirkungen kennen. Das neue Wissen setzte sich ebenso magisch in Bryannas Kopf fest, wie das was sie von Bride und der weißen Schlange bekommen hatte. Schließlich lehnte sie sich erschöpft zurück. „Ich kann nicht mehr”, sagte sie.
Annie hob die letzte Pflanze hoch. „Wir sind gleich durch.” Nachdem sie eindringlich die Gefahren der giftigen Tollkirsche und deren vorsichtigen Einsatz als Schmerzmittel erklärt hatte, war sie fertig. Sie winkte einem Jungen, der die Gruppe schon seit einiger Zeit aus dem Fenster des Hauses betrachtet hatte. Der Bub brachte einen großen Krug kühlen Apfelsaft und frischgebackenes Brot mit Butter und Salz. Hungrig griffen Bryanna, Annie und Kaylee zu. Als sie satt waren, streckte sich Kaylee.
„Ist das Leben nicht wunderbar?”
Bryanna knurrte zustimmend.
Annie stand auf. „Komm, Bryanna. Ich will dir noch etwas geben, bevor ihr wieder los müsst.”
Brummend folgte Bryanna ihr und sah neidisch, wie sich Kaylee ins weiche Gras legte und die Sonne genoss. An der Garderobe hinter der Haustür hing Bryannas Tasche. Sie nahm sie an sich und folgte Annie in eine Bibliothek. Das Zimmer war rundherum mit Regalen ausgerüstet, die sich unter dem Gewicht der Bücher bogen. Ein Tisch zum Lesen stand an einem der Fenster und zwei kleine Schubladenschränke standen daneben. Annie durchwühlte die Schubladen eine nach der anderen. Über die Schulter sagte sie: „Ich weiß nicht, was ich von Kaylee halten soll. Sie ist das andere Halbblut und du solltest dich eigentlich vor ihr in Acht nehmen.”
„Ich weiß.” Bryanna erzählte Annie, wie sie Kaylee und ihren Vater belauscht hatte. „Sie schien nicht besonders glücklich bei dem Gedanken, mir etwas tun zu müssen.”
Annie zuckte mit den Schultern und zog die nächste Schublade auf. „Ihr Vater bereitet sie seit Jahren darauf vor, Wächter zu werden. Sie ist nichts anderes gewohnt.”
Bryanna setzte sich auf den Holzstuhl am Lesetisch und sah Annie an. „Warum will Callum unbedingt, dass Kaylee Wächter wird?”
„Ich denke, dass Kaylee für ihn nur eine Waffe ist, mit der er deine Eltern töten will. Vielleicht wird er Kaylee sogar dazu bringen, die Schwachstellen auszuweiten. Dann werden Wesen Schottland heimsuchen, die seit Jahrhunderten nicht mehr dort waren.”
Bryanna schluckte. Ihr war klar, dass es einen furchtbaren Krieg geben würde. Kelpies, Riesen und Redcaps gegen Soldaten, Panzer und Bomben. Viel würde weder von Schottland noch von Alba übrig bleiben. Und am meisten werden wieder die leiden, die am wenigsten dafür können. Denkt Callum denn gar nicht an die Frauen und Kinder auf beiden Seiten? Bryanna ballte die Hände zu Fäusten.
„Wahrscheinlich wäre es am besten, ich würde Kaylee so schnell wie möglich ausschalten”, sagte sie mit zitternder Stimme. „Aber ich kann sie nicht töten. Ich kann überhaupt nicht töten. Außerdem ist sie meine Freundin.”
„Ah, da ist sie ja!” Annie nahm eine kleine, goldene Schere aus der Schublade, die sie gerade untersucht hatte. Sie richtete sich auf und sah zu Bryanna. „Töten ist furchtbar. Es wird Zeit, dass die Wächter sich über wichtigere Dinge Gedanken machen.”
„Wenn ich sie jetzt sofort aus dem Weg räume, kann sie mir nicht in den Rücken fallen.” Bryanna war entsetzt, wie gefühllos dieser Gedanke war.
„Angst ist ein schlechter Ratgeber. Komm mit, ich werde dir eine Geschichte erzählen.” Annie zog sie mit sich vor die Haustür. Sie zeigte auf einen breitschultrigen, sonnengebräunten Mann, der am Strand mit sechs kräftigen Knaben tobte. „Das dort ist Johnny Croy of Volyar mit seinen Söhnen. Sieh ihn dir an: Jung und stark ist er, seine Söhne kaum halbwüchsig. Doch ihr jüngster Bruder ist schon viele Jahrhunderte tot.” Sie setzte sich auf die Treppe. Bryanna hockte sich neben sie. Annie holte tief Luft und begann zu erzählen.
„Vor vielen Jahren eurer Zeit heiratete Johnny eine Tochter unseres Volkes, Gem-de-Lovely. Sieben Jahre eurer Zeit lebte sie bei ihm, im Guten wie im Schlechten, denn so hatten sie es ausgemacht. Sie hatte großes Heimweh, doch sie liebte
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