Schottlands Wächter (German Edition)
ihn und die Kinder.
Endlich kam der Tag, an dem die ganze Familie zu uns zurückkehren wollte. Gem war voller Vorfreude. Sie sehnte sich sehr nach Finfolkaheem. Schon war alles im Boot verstaut. Nur ihr jüngster Sohn, kaum der Mutterbrust entwöhnt, fehlte noch. Gem lief ins Haus der Großmutter, um ihren Sohn zu holen. Doch die Alte hatte ihn verhext. Gem konnte ihn nicht einmal anfassen, ohne sich entsetzlich zu verbrennen. Sie kehrte ohne ihn heim, ein Arm voller Brandblasen und vereitert, das Herz wund von ungeweinten Tränen. Noch heute leidet sie daran, dass ihr Jüngster später auf Kreuzzug ging und viele, viele Menschen tötete.”
„Wahrscheinlich ahnte die Großmutter, dass sie nicht wiederkehren würden, oder?”, fragte Bryanna.
„Glaube nicht, dass wir kein Verständnis für ihr Handeln haben. Es ist nur so unendlich traurig, wenn man bedenkt, was er hier in Hether Blether oder in Finfolkaheem hätte werden können. Hätte die Großmutter weniger Angst vor uns gehabt …” Annie seufzte, und Trauer huschte über ihr Gesicht „Sie wäre uns ebenso willkommen gewesen, wie ihr Sohn und die Buben.”
„Aber das wusste sie nicht.”
„Eben. Unbekanntes schürt die Angst. Deshalb ist es wichtig, erst zu verstehen und dann zu handeln.”
„Ich kenne Kaylee jetzt schon eine ganze Weile und kann mir nicht vorstellen, dass sie mich angreift. Ich werde ihr also weiterhin vertrauen. Das ist eine Freundin der anderen doch schuldig.” Bryanna sah Annie herausfordernd an.
Annie zuckte die Schultern. „Das ist eine gute Entscheidung. Ob sie richtig ist, wird die Zeit zeigen. Manchmal ergeben sich erst Lösungswege, wenn man alle Fakten kennt und in Kaylee geht etwas vor, dass ich nicht einschätzen kann.” Sie nahm einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel und zog eine abgeschnittene Strähne langen Haares heraus. „Sie sind von einer Jungfrau. Dafür bist du gekommen. Nutze die Schere auch für die Haare der anderen Frauen und dein Seil wird besonders stark und haltbar.” Sie reichte Bryanna Schere und Haare. Seufzend steckte das Mädchen beides ein. In diesem Moment kam Kaylee um die Ecke des Hauses.
„Da habe ich ja richtig gehört. Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr wieder.” Sie reichte Bryanna eine Hand und half ihr beim Aufstehen. „Wann reisen wir weiter, Bryanna? Es ist schon zu viel Zeit vergangen. Wir sollten nicht länger trödeln.”
„Du hast völlig Recht.” Annie sprang auf und rief nach dem Jungen, der ihnen Saft gebracht hatte. Wenig später standen die beiden Meerpferde zur Abreise bereit.
Bryanna umarmte Annie. „Danke für alles.”
„Komm wieder, wenn du kannst”, sagte Annie. „Dann bringe ich dir die Sachen bei, für die wir nicht genug Zeit hatten.”
Bryanna riss die Augen auf und stöhnte. „Waaas? Es gibt noch mehr zu lernen?”
Annie lachte bis ihr die Tränen kamen und sagte: „Man lernt nie aus. Das weißt du doch.”
Kaylee war bereits aufgestiegen. Ihr Meerpferd stampfte ungeduldig mit den Hufen. Bryanna rückte die Tasche der weisen Frauen zurecht und ließ sich in Florins Sattel helfen, dann ritten die beiden Mädchen zum Wasser hinunter.
„Denkt daran! Die Meerpferde dürfen euch nicht an Land bringen”, rief Annie ihnen nach.
Die Pferde glitten ins Meer und schossen mit einer Geschwindigkeit knapp über der Wasseroberfläche entlang, als wollten sie die Sonne einholen, die gerade unterging. Bryanna winkte so lange, bis Hether Blether im Nebel verschwand.
„Geht‘s jetzt direkt nach Westray?” Obwohl Kaylee schrie, hatte Bryanna Probleme, sie zu verstehen. Der Wind riss ihr die Worte vom Mund, kaum dass sie ausgesprochen waren. Kaylee musste ihre Frage dreimal wiederholen. Dann schüttelte Bryanna den Kopf.
„Wir müssen nach Sanday.”
„Ich dachte, wir müssen nach Westray.”
„Wir haben Annie doch getroffen, wenn auch anders, als erwartet. Jetzt müssen wir nach Sanday.”
„Warum fliegen wir nicht?”
„Weil wir unterwegs jemanden treffen, hoffe ich!”
Da das Sprechen wegen des Windes zu anstrengend war, schwiegen die Mädchen. Die Meerpferde sausten ruhig und gleichmäßig dahin. Von Zeit zu Zeit schossen sie aus dem Wasser und glitten auf dem Bauch über die Wellen. Langsam wurde es dunkler. Der Mond hing voll und rund am wolkenlosen Himmel und tauchte das Meer in silbrigen Glanz. Bald funkelten die Wellen mit den Sternen um die Wette und das Fell der Meerpferde glitzerte im Mondlicht, als sei es mit Tausenden von
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