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Schreckensbleich

Schreckensbleich

Titel: Schreckensbleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urban Waite
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passiert. Jeden Moment rechnete er damit, aus der Arrestzelle geholt und wieder ins Vernehmungszimmer gebracht zu werden.
    Den ganzen Vormittag hatte er zugesehen, wie die Männer in der Zelle kamen und gingen. Keiner von ihnen hatte mit ihm geredet. Er war draußen, und wenn er zurückkam, waren fünf von den anderen weg, und fünf Neue hatten ihre Plätze eingenommen. Er sah sich in der Zelle um, sorgsam darauf bedacht, niemandem in die Augen zu sehen. So war es für ihn in Monroe gelaufen. Er war kein harter Kerl. Überhaupt nicht, aber er hatte überlebt, indem er gar nicht erst versucht hatte, hart zu sein, indem er sich um seinen eigenen Kram gekümmert und sich einfach nur bemüht hatte, seine Strafe zu überstehen.
    Während des zweiten Jahres hatte er sich eine Lungenentzündung eingefangen und eine Woche auf der Krankenstation gelegen. Die Männer dort hatten miteinander geredet, und es war nicht so gewesen wie in den Zellen, wo alle nach irgendwelchen Gruppenzugehörigkeiten getrennt waren. Er hatte gewusst, dass es wieder genauso sein würde, wenn er von dort wegkam, aber damals hatte es ihn fasziniert, und er hatte gedacht, es könnte vielleicht alles anders sein.
    Etliche der Männer kamen aus anderen Gefängnissen und erzählten sich Geschichten, was sie alles gesehen hatten. Im Anus eingeschmuggeltes Crack. Tätowiermaschinen aus Ventilatormotoren. Gewalt.
    In der Geborgenheit seines Bettes war ihm das alles sehr ungefährlich vorgekommen, fast wie ein Unterhaltungsprogramm. Doch als ihm die Männer ihre Narben gezeigt hatten, war das Ganze wieder real geworden. »Zwölf Zentimeter«, verkündete ein Mann und zeigte auf die Delle dicht oberhalb seines Bauches. »Genau zwischen Lunge und Dünndarm.« Die Narbe war bloß einen Zentimeter lang, reichte aber zwölf Zentimeter in die Tiefe.
    Der Junge legte den Kopf in die Hände und bemühte sich, zu atmen. Er starrte den Boden der Arrestzelle an, grauer Beton mit schwarzen Flecken. Vorsichtig drückte er die Zehenspitze auf einen der Flecken und fühlte, wie sein Schuh kleben blieb. Kaugummi: Seit Jahren hatte er kein Kaugummi mehr gekaut.
    Erst acht Stunden war es her, dass er in den Bergen gewesen war. Er war an einem Ort gewesen, der das Gegenteil von dem war, was er gekannt hatte. Alles, worauf er jetzt hoffen konnte, war, dass sie nicht zu streng mit ihm verfahren würden. Er war im Gefängnis gewesen, aber wegen fahrlässiger Tötung. Für sie würde dieses Leben – alles, was ihn an diesen Punkt gebracht hatte – ganz sicher wie ein Versehen aussehen. Ein gigantischer Zufall. Damit konnte er leben. Er hatte ja schon damit gelebt.
    Wieder sah er sich in der Zelle um. Ein Mann in der Ecke gegenüber starrte ihn an. Der Junge schaute weg. Er rieb die Hände aneinander und zog die Schultern hoch. Der Mann kam herüber und setzte sich neben ihn. »Wie viel wiegst du?«, fragte er.
    Der Junge sah ihn an, ein rasierter, rosiger Schädel, oben eine Glatze, wo kein Haar wuchs, und eine breite, plattgeschlagene Nase, die ein bisschen schief saß. Der Junge schaute weg. »Fast zwei Zentner. An guten Tagen kann ich glatt ’n Big Mac stemmen.«
    »Das ist gelogen.«
    »Das hör ich in letzter Zeit oft«, erwiderte der Junge.
    »Wie kommst du hierher?«
    »Hab in die Keksdose gelangt.«
    »Das kommt so einigermaßen hin«, meinte der Mann. »Das kommt immer so einigermaßen hin.«
    Der Junge spürte, wie sich der andere auf der Bank bewegte, und drehte sich zu ihm um. Der Mann beugte sich auf der Bank von ihm weg, betrachtete ihn abschätzend.
    »Ich würde sagen, ungefähr dreiundsechzig, vielleicht auch ’n bisschen mehr.«
    »Ist das dein Ding?«, fragte der Junge. »Schätzt du in deiner Freizeit, was andere Typen wiegen?«
    »Unter anderem.«
    »Wieso schaffst du deine Fähigkeiten nicht wieder rüber auf die andere Zellenseite?«
    »Du brauchst gar nicht so unhöflich zu sein, Kleiner. Man sollte doch meinen, du hättest schon gelernt, vor Älteren Respekt zu haben.«
    »Verpiss dich.«
    »Ich dachte ja, für einen Bengel aus Monroe hättest du bessere Manieren.«
    »Wo hast du das gehört?«, wollte der Junge wissen. Er wollte sich aufrichten, aber der Mann bückte sich tief und zog ihm die Beine weg. Der Junge ging hart zu Boden, und das Geräusch, das er hörte, war das Krachen, mit dem sein Unterkiefer gegen den Boden prallte und seine Zähne aufeinanderschlugen. Er schmeckte Blut. Der Mann war über ihm. Er wollte nach der Wache schreien, doch

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