Schreckensbleich
erfülltes Leben gelebt, hatten gespart und empfanden eine Zufriedenheit mit Heim und Familie, die er niemals gekannt hatte.
Hunt musste eine Entscheidung treffen. Er wusste, dass sein Leben nie wieder so sein würde, wie es noch Tage zuvor gewesen war, alles im Lot, alles eindeutig. Nora hatte gesagt, er solle abhauen. Sie hatte ihm ein Versprechen abgenommen. Doch er brauchte einen Ausweg. Er brauchte Geld, er brauchte Nora an seiner Seite.
So hatte er sich schon seit vielen Jahren nicht mehr gefühlt. Seit der Zeit in Monroe nicht mehr, als sein Leben nicht ihm gehört hatte und er sich, so gut er konnte, für das verantwortet hatte, was er getan hatte. Es war kein schönes Gefühl, und er saß im Boot und spürte das Schaukeln des Wassers unter sich. Er beobachtete die Sonne, ihren verblassten Scheitel am Horizont, die Nacht, die über ihm heraufzog, und das Gefühl in seinem Innern war so schwer wie Granit.
***
Driscoll fuhr ihn zum Hotel zurück. Von der Lobby aus sah Drake zu, wie das Zivilfahrzeug aus der Auffahrt bog und in östlicher Richtung am Fenster der Lobby vorbeiraste, als müsste Driscoll einen Flieger erwischen, dabei wusste Drake, dass er bloß ins Büro zurückfuhr, die Straße hinauf. Drake stand da, halb betrunken vom Abendessen. Er fühlte sich unwohl, abgeschoben und verloren. Alles war gut gelaufen. In seiner halbtrunkenen Benommenheit dachte er tatsächlich, Driscoll könnte ein netter Kerl sei. Der Agent hatte ihm gesagt, er sei noch immer Teil der Ermittlungen. Wo das Ganze von hier aus hinführen würde, wusste Driscoll nicht, doch er hätte nichts dagegen, Drake dabeizuhaben, wenn dieser helfen konnte, wenn er die eine oder andere Leiche identifizieren konnte, die dabei auftauchte, hatte er gemeint, so etwas in der Art eben.
Ein schwerer Geruch umgab ihn, jetzt roch er es, etwas wie Whisky, vermischt mit dem Glas Portwein, das er nicht hätte trinken sollen. Drake sah sich in der Lobby um. Fast verlor er die Orientierung, zu beschwipst und zu müde, um sich nach dem Fahrstuhl umzuschauen oder nach seinem Zimmerschlüssel zu suchen.
Im Fahrstuhl dachte er daran, den Hut abzunehmen, als eine Frau einstieg, die ungefähr so alt war wie seine Mutter, dann jedoch fiel ihm ein, dass er ihn gar nicht aufhatte. Sie fuhr etliche Stockwerke weit mit. Eingehend betrachtete er das Spiegelbild der Frau in den matten Edelstahltüren. So alt, wie seine Mutter jetzt gewesen wäre. Seine Mutter, eine Grundschullehrerin, an Leukämie gestorben, als Drake noch ein Kind gewesen war; sein Vater stand dabei, ein verlorener Blick trat in seine Augen. All die Zeit, die er mit seiner Mutter verbracht hatte, und das war es, woran er sich erinnerte. Er konnte es nicht abstellen. Er konnte sich nicht abwenden. Vielleicht war das der Grund, warum er nach seinem Vater suchte, dem Mann, der nicht so da war, wie er es früher gewesen war, ganz und gar nicht der Mann, an den Drake sich erinnerte. Seine Mutter, fort, davongeglitten in jener längst vergangenen Zeit einer halb erinnerten Kindheit, doch sein Vater war schlicht und einfach verschwunden.
Drake sprach kein Wort mit der Frau im Fahrstuhl. Als sie ausstieg, fing er ihren Blick auf; sie blickte zu ihm zurück, als die Türen sich schlossen. Er fragte sich, wie er ihr wohl vorkam, als was für ein ungehobeltes Geschöpf er sich präsentierte. Hatte sie einen Sohn wie ihn? Jemanden in seinem Alter, jemanden, der noch jung war, der noch dabei war, zu lernen, dass Dinge verschwinden konnten, genommen und nie zurückgegeben werden konnten. Auf jeden Fall sah er nicht aus wie ein Gesetzeshüter, sondern wie etwas ganz anderes, etwas, das genau das Gegenteil war, unsteter, weniger fest, wie der Knick in einem Seil, nachdem die Kraft des Knotens sich löst.
Als er auf seinem Stockwerk ankam, öffnete er die Tür mit der Schlüsselkarte in seiner Brieftasche. Drinnen nichts als Dunkelheit, das kühle, offene Gefühl der Fenster, die Stadt dahinter, und ein leichter Regen, der das alles durchrieselte. Alles ein Kaleidoskop aus Wasser, Kristall und Licht. Er hörte, wie sich seine Frau im Bett umdrehte. »Bobby?« Voller Schlaf.
»Ja«, antwortete er, mehr jedoch nicht. Ihm war klar, dass sie nur Bestätigung wollte. Er löste das Holster vom Gürtel und legte es auf die Kommode. Seine Stiefel ließ er zu Boden fallen, und dann im Gehen sein Hemd, seine Jeans, und während er auf der anderen Seite des Bettes saß und auf die Stadt hinausblickte, seine Socken.
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