Schrei der Nachtigall
kam in ihm der Gedanke hoch, sich vielleicht doch verrannt zu haben. Aber dieser Gedanke war viel zu flüchtig, als dass er ihn weiterdenken konnte. Brandt stellte die Anlage auf volle Lautstärke, Shania Twain dröhnte in seinen Ohren.
Samstag, 12.50 Uhr
Als Brandt Lehnert nicht in seinem Haus antraf, begab er sich zum Kirchengebäude, wo Lehnert vor dem Altar in ein Gespräch mit einer älteren Frau vertieft war. Er schaute zur Tür, als Brandt eintrat, und widmete sich gleich wieder der ganz in Schwarz gehüllten Frau.
Die würden ein gutes Paar abgeben, beide in Schwarz, dachte Brandt ironisch und nahm auf einer der hinteren Bänke Platz, um zu warten, bis Lehnert Zeit für ihn hatte. Die Frau drehte sich um und kam an ihm vorbei. Sie war viel älter, als Brandt gedacht hatte. Er schätzte sie auf Anfang bis Mitte achtzig, aber sie hatte dennoch einen ungebeugten, stolzen Gang. Sie sah ihn kurz an, bevor ihre langsamen Schritte allmählich verhallten. Er stand auf und ging zu Lehnert, der die Hände vor dem Bauch gefaltet hatte. Sein Blick war gewohnt ernst, auch wenn er nicht mehr so unnahbar schien wie bei den ersten beiden Treffen.
»Guten Tag, Herr Brandt. Was führt Sie zu mir?«
»Immer noch dasselbe leidige Problem. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?«
»Bitte, gehen wir in mein Büro.«
»Können wir das auch im Beichtstuhl machen?«, fragte Brandt.
»Der Beichtstuhl ist für die Beichte und nicht für normale Gespräche«, entgegnete Lehnert abweisend. »Oder haben Sie vor, die Beichte abzulegen?«
»Nein, zumindest jetzt nicht. Können Sie nicht mal eine Ausnahme machen?«
Lehnert überlegte und sagte schließlich: »Also ausnahmsweise, auch wenn ich es nicht gutheiße.«
Sie begaben sich zum Beichtstuhl, Brandt setzte sich auf die von vorn gesehen linke Seite des verzierten Gitters auf die kleine Holzbank und lehnte sich an. Er konnte Lehnert nicht erkennen, da sein Gesicht von einem kleinen Vorhang verdeckt wurde.
»Ich höre«, sagte Lehnert so leise, dass jemand, der in diesem Moment die Kirche betrat oder sich in ihr aufhielt, es nicht hätte verstehen können.
»Es geht um Herrn Wrotzeck. Ich komme nicht weiter, was meine Ermittlungen angeht. Ich bin sicher, dass er mit dem Tod von Inge und Johannes Köhler zu tun hat. Und ich bin ebenso sicher, dass er Ihnen davon berichtet hat. Und zwar genau hier. Er saß an meiner Stelle und hat Ihnen erzählt, was er getan hat. Ich brauche Ihre Hilfe, um Klarheit in die Sache zu bringen. Ich kann nicht mehr richtig schlafen, ich habe Alpträume, und ich möchte endlich diesen Fall zum Abschluss bringen. Was muss ich tun, damit Sie mir helfen?«, flüsterte Brandt.
Für Sekunden herrschte Stille, bis Lehnert antwortete. Ihm stand Schweiß auf der Stirn, seine Handflächen waren feucht, er atmete schwer. »Ich habe Ihnen bereits geholfen. Und, wie gesagt, ich glaube, dass Sie nicht richtig zugehört haben. Ja, Herr Wrotzeck hat an Ihrer Stelle gesessen, und er hat mir ein paar Dinge anvertraut, über die er mit niemandem sonst gesprochen hat. Aber ich kann Ihnen leider nicht sagen, was er mir anvertraut hat.«
»Verbietet es Ihnen das Beichtgeheimnis, auf bestimmteFragen mit einem Ja oder Nein zu antworten?«, fragte Brandt.
»Ja«, war die knappe, aber entschiedene Antwort. »Falls es Ihnen nicht bekannt ist, aber ich darf über die Beichten meiner Mitglieder und auch anderer, die zu mir kommen und ihre Sünden bekennen, nicht einmal mit meinem Bischof sprechen. Ich bin der einzige, der davon Kenntnis hat. Und sollte ich es doch tun, so werde ich unweigerlich exkommuniziert und verliere alles. Ich bekomme nicht einmal die letzte Ölung, wenn ich auf dem Sterbebett liege. Verstehen Sie jetzt, warum ich mich so bedeckt halte?«
Er hörte die Verzweiflung aus Lehnerts Stimme, der gerne gesprochen hätte, es aber aufgrund verquaster Regeln, so empfand es Brandt, die irgendwann von der Kirche aufgestellt worden waren, nicht durfte. Er war ein Gefangener, der die Lasten anderer mit sich herumtrug, während diese sich nach ihrem Bekenntnis wieder ins normale Leben stürzen konnten.
»Doch, ich verstehe Sie. Dennoch möchte ich Ihnen etwas sagen. Wrotzeck kam am 24. März 2001 zu Ihnen und hat Ihnen berichtet, dass er am Abend zuvor den Tod von Inge Köhler verursacht hat. Und ich gehe davon aus, dass er Ihnen noch viel mehr erzählt hat, denn sonst hätten Sie auf Herrn Caffarelli nicht den Eindruck gemacht, als wären Sie dem Teufel persönlich
Weitere Kostenlose Bücher