Schrei der Nachtigall
begegnet. Das hat er mir gesagt. Er hat mir auch gesagt, dass Sie ab diesem Tag zu einem andern Menschen geworden sind. Ich denke, das, was Wrotzeck Ihnen an diesem Abend mitgeteilt hat, war nicht nur der Unfall von Inge Köhler, seiner ehemaligen großenLiebe, es war noch etwas anderes, etwas, das einen solch schlimmen Eindruck bei Ihnen hinterlassen hat …«
»Herr Brandt, ich möchte dieses Gespräch beenden, denn es führt zu nichts. Ich sitze hier nicht, um die Beichte abzulegen, das tue ich regelmäßig bei meinem Bischof.«
»An wen kann ich mich wenden, um mehr zu erfahren? Wrotzeck ist tot …«
»Und die Toten soll man ruhen lassen. Es war schon genug, dass Sie ihn aus dem Grab geholt haben.«
»Warten Sie bitte noch, bevor Sie aufstehen. Ich möchte Ihnen erklären, um was es geht. Ich war vorhin bei Herrn Köhler. Er ist ein gebrochener Mann, er hat alles verloren, was ihm wichtig war. Auch wenn er versucht, nach außen hin Stärke zu zeigen, ist sein Leben für ihn wertlos geworden. Liegt es Ihnen nicht auch am Herzen, ihm den Glauben an die Gerechtigkeit zurückzugeben? Und vielleicht auch den Glauben an Gott? Er hat mich rausgeschmissen, weil ich ihm von meiner Theorie erzählt habe. Im Moment glaubt er an gar nichts mehr.«
»Das tut mir leid für ihn, wirklich. Dennoch muss ich Sie bitten, mir keine weiteren Fragen zu stellen.«
Lehnert verließ den Beichtstuhl, Brandt folgte ihm. Die Kirche war leer, die Tür geschlossen. Lehnerts Blick war auf Brandt gerichtet. Er reichte ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen. Und viel Glück.«
»Auf Wiedersehen. Sie würden gerne reden, stimmt’s?«
»Was ich gerne würde, zählt nicht. Für mich gelten andere Regeln und Gesetze als für Sie. Das ist die Trennung von Kirche und Staat oder von kirchlicher und weltlicher Gesetzgebung.«
Sie bewegten sich langsam auf den Ausgang zu, als Brandt stehen blieb. Auch Lehnert verlangsamte seine Schritte und drehte sich um. »Herr Lehnert, ich möchte noch einmal auf diesen einen Satz zurückkommen, den Sie gesagt haben: Nichts passiert einfach so, schon gar nicht solche Unfälle. Sie haben im Plural gesprochen und damit nicht Wrotzecks Tod, sondern den von Inge und Johannes Köhler gemeint. Er war also noch einmal bei Ihnen, und zwar vor drei oder vier Monaten. Vielleicht sogar am Tag nach dem Unfall von Johannes und Allegra. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als nur mit Ja oder Nein zu antworten. War Wrotzeck am 17. April dieses Jahres bei Ihnen, um die Beichte abzulegen? Das war übrigens auch ein Samstag, genau wie der 24. März 2001.«
»Ja, er war an beiden Tagen hier und hat die Beichte abgelegt. Kompliment, Sie fangen allmählich an, die richtigen Fragen zu stellen. Und wenn Sie alles zusammenhaben, dann kommen Sie wieder und stellen mir weitere Fragen, und zwar solche, die ich mit reinem Gewissen beantworten kann. Sie müssen die Wahrheit suchen, denn sie kommt nicht von allein zu Ihnen. Möge der Herr mit Ihnen sein.«
»Danke.«
Draußen sagte Brandt, bevor er sich endgültig verabschiedete: »Haben Sie schon das Neueste von Allegra gehört?«
»Nein, was ist mit ihr?«
»Sie ist schon ein paarmal kurz aufgewacht. Sie wird gesund und vielleicht schon bald wieder hier singen.«
Lehnerts Gesicht begann sich aufzuhellen, als er sagte: »Das ist die beste Nachricht seit langer, langer Zeit.«Brandt meinte Tränen in seinen Augen zu sehen, bevor Lehnert sich schnell umdrehte und seine Schritte Richtung Pfarrhaus lenkte. Er blickte ihm nach, bis er die Tür hinter sich zugemacht hatte. Dann überlegte er, was er als Nächstes tun sollte, und entschied sich, zu Liane Wrotzeck zu fahren. Er hatte den Zündschlüssel bereits ins Schloss gesteckt, als sein Handy klingelte. Matteo Caffarelli.
»Herr Brandt, was haben Sie gerade vor?«
»Warum?«
»Ich bin bei Allegra im Krankenhaus. Sie ist schon den ganzen Morgen wach. Möchten Sie nicht herkommen und sie begrüßen?«
»Ich weiß nicht, ihre Mutter und ihr Bruder sind doch bestimmt auch bei ihr, und da möchte ich nicht stören.«
»Sie sind da, aber es würde ihnen nichts ausmachen, wenn Sie kommen würden. Ich habe bereits mit ihnen gesprochen.«
»Also gut, ich bin sowieso in Bruchköbel. Bis gleich.«
Er hielt das Telefon noch eine Weile in der Hand und fragte sich, ob es richtig war, nach Hanau in die Klinik zu fahren. Natürlich freute er sich mit allen andern, dass Allegra es nun offenbar endgültig geschafft hatte, aber irgendwie war es ihm
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