Schrei der Nachtigall
derjenige mich etwa beschuldigt?«
»Nein. Wir wollen lediglich herausfinden, ob an diesem Hinweis irgendwas dran sein könnte. Wie stehen Sie denn zu Frau Wrotzeck und den Kindern?«
Köhler schürzte die Lippen und meinte: »Ganz ehrlich,ich wundere mich, dass Liane es so lange mit Kurt ausgehalten hat. Und Allegra und Thomas haben mir immer leid getan. Die hätten weiß Gott was Besseres verdient gehabt.« Und nach einer Pause, während der er seine Gedanken zu sortieren schien: »Was mit meinem Sohn und Allegra passiert ist, wissen Sie bestimmt schon, oder?«
»Nur, dass Ihr Sohn bei einem Unfall ums Leben gekommen ist und Allegra noch immer im Koma liegt, aber Details kennen wir nicht.«
Köhlers Miene verdüsterte sich von einer Sekunde zur andern. »Es war am 16. April, ein Freitag, da habe ich meinen Sohn zum letzten Mal lebend gesehen. Ich werde diesen verfluchten Tag nie vergessen. Es war ein sonniger, warmer Frühlingstag. Johannes und Allegra waren abends mit Freunden zusammen, Ferdinand Mahler und Anne Friedrichs, die wohnen in Hammersbach. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen. Wenn Sie hier vom Hof links runterfahren, kommen Sie direkt auf die Straße nach Hammersbach. Ziemlich genau zwei Kilometer von hier entfernt ist es passiert. Beide sagen, dass Johannes und Allegra gegen elf gegangen sind. Was danach geschah«, er zuckte mit den Schultern, »das wissen allein die Götter. Die Polizei sagt, der Unfall müsse so zwischen halb eins und eins passiert sein, gefunden wurden sie jedenfalls um halb zwei. Der Wagen hat sich ein paarmal überschlagen. Johannes soll sofort tot gewesen sein, und auch um Allegra stand es anfangs überhaupt nicht gut. Die Vermutung geht dahin, dass möglicherweise ein Reh oder ein Hirsch die Fahrbahn überquert hat und Johannes das Lenkrad verrissen hat, denn es gab keine Wildspuren am Fahrzeug.« Er machteerneut eine Pause, sah an Brandt und Eberl vorbei aus dem Fenster und doch weit, weit weg. Darüber zu reden, schien ihn stark mitzunehmen. Seine Stimme war brüchig und stockend, als er weitersprach: »Als die Polizei um kurz nach zwei bei mir klingelte, war mir sofort klar, dass …« Er schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wenn die Polizei nachts klingelt, kommt sie immer mit einer bösen Nachricht. Und die war sehr böse. Ich hab mir nur schnell was übergezogen und bin mit den Beamten zur Unfallstelle gefahren … Das Auto war nur noch ein Schrotthaufen, mitten auf dem Feld, und das Makabre war, dass ein Scheinwerfer noch an war … Johannes lag schon in einem von diesen Plastiksäcken. Sie haben den Reißverschluss aber auf mein Drängen hin noch mal aufgemacht, obwohl sie mir gesagt haben, das sei kein schöner Anblick, ich solle mir das doch ersparen. Aber ich wollte meinen Sohn ein letztes Mal sehen, und da war es mir egal, wie er aussah. Wissen Sie, wie das ist, wenn man seinem einzigen Sohn ein letztes Mal über die Wange streicht?«
»Nein«, entgegneten Brandt und Eberl beinahe synchron.
»Er war zwar schon fast zwei Stunden tot, aber trotzdem hat er sich warm angefühlt, und ich hoffte, er würde die Augen wieder aufmachen, wenn ich ihn berühre. Aber seine Augen blieben zu, er hat nicht mehr angefangen zu atmen. Erst meine Frau, dann mein Sohn. Was soll ich mit all dem Besitz und dem Geld, wenn da niemand mehr ist, mit dem ich das alles teilen kann? Seit dem Tod meiner Frau war Johannes alles, was ich hatte.« Köhlers Blick ging wieder ins Leere, bevor er auf seinegrauen Haare deutete und fortfuhr: »Diese Haare sind im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht grau geworden. Auch wenn die Wissenschaft meint, so etwas würde es nicht geben, bei mir war es aber so. Ich stand tagelang unter Schock, ich war wie traumatisiert. Und als ich am Tag nach dem Unfall in den Spiegel sah, waren die Haare mit einem Mal grau. Es gibt Dinge, die wir einfach nicht erklären können, und das gehört für mich dazu … Aber um noch mal auf Johannes zurückzukommen, er hatte zwei große Träume. Er wollte Arzt werden, vor allem aber wollte er Allegra heiraten.«
»Und der Hof? Sollte er ihn nicht irgendwann übernehmen, wie es so üblich ist?«, fragte Eberl.
»Mein Gott, warum das? Wir leben doch nicht mehr wie vor hundert oder zweihundert Jahren. Ich hätte meinen Sohn nie gezwungen, etwas zu machen, was er nicht will. Und dass er kein geborener Landwirt war, das haben meine Frau und ich schon früh gemerkt. Wenn ich eines Tages abtrete, wird es schon
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