Schrei der Nachtigall
einen Nachfolger geben, auch wenn er nicht Köhler heißen wird. Mein Sohn war mir jedenfalls wichtiger als dieses bisschen Land. Ich hoffe nur, dass Allegra irgendwann wieder aufwacht. Alle im Ort hoffen es.«
»Ist sie so beliebt?«, fragte Brandt.
»Sie hat etwas ganz Besonderes an sich. Sie ist keine von diesen jungen Frauen, die man heute immer öfter sieht, aufgebrezelt bis zum Gehtnichtmehr, aber nichts in der Birne. Nein, Allegra ist anders. Dabei hatte sie es wahrhaftig nie leicht gehabt. Wrotzeck hat ihr das Leben manchmal ganz schön zur Hölle gemacht. Und mich würde auchnicht wundern, wenn er versucht hätte, seine dreckigen Pfoten an sie zu legen …«
»Moment, Moment«, unterbrach ihn Brandt, »wollen Sie damit sagen, dass Wrotzeck seine Tochter angefasst hat? Sie wissen schon, was ich meine.«
Köhler lächelte müde und antwortete: »Das hab ich nicht gesagt, aber manchmal, wenn sie hier war, hatte ich den Eindruck, als würde sie irgendwas Schweres mit sich rumtragen. Sie hat ihren Vater zwar immer in Schutz genommen, aber ich wusste, dass sie es zu Hause nicht leicht hatte. Ich hab Johannes mal darauf angesprochen, aber er hat mir auch keine Antwort geben können oder wollen … Sie ist ein feines Mädchen, und ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass sie wieder aufwacht, denn dann würde ich wieder an eine Gerechtigkeit glauben, auch wenn sie nicht meine leibliche Tochter ist. Sie und Johannes kannten sich, seit sie laufen konnten, sie sind auf dieselbe Schule gegangen. Ich schwöre Ihnen eines – ich werde ein Fest veranstalten, sollte unsere kleine Nachtigall jemals das Krankenhaus verlassen und mich wiedererkennen.«
»Unsere kleine Nachtigall?«
Köhler lächelte verklärt. »Sie hat eine traumhaft schöne Stimme, und deshalb wird sie von allen nur Nachtigall genannt. Sie wollte nach dem Abitur Musik studieren, und ihr großer Traum war, eines Tages als Opernsängerin aufzutreten. Aber der Herrgott hatte wohl andere Pläne mit ihr. Singen wird sie bestimmt nicht mehr können.«
»Und wenn doch?«
»Dann wäre das das schönste Geschenk, das man mir machen könnte«, antwortete Köhler mit aufrichtigerStimme und feuchten Augen, über die er sich so unauffällig wie möglich wischte, als wollte er sich keine Blöße geben. »Aber ich denke nur noch in kleinen Schritten. Erst muss sie aufwachen, dann wieder ganz allmählich ins Leben zurückfinden, wobei keiner weiß, ob sie nicht irgendwelche Spätfolgen davongetragen hat und vielleicht ihr Erinnerungsvermögen völlig ausgelöscht ist, oder sie kann nicht mehr richtig sprechen oder muss den Rest ihres Lebens im Rollstuhl verbringen. Niemand kann sagen, was in ein paar Tagen, ein paar Wochen oder ein paar Monaten sein wird. So viel zu Allegra. Haben Sie noch Fragen?«
»Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass Ihr Erzfeind tot ist?«
»Herrje, fällt Ihnen keine bessere Frage ein? Aber gut, ich war nicht gerade traurig, wie Sie sich vielleicht vorstellen können. Und ganz ehrlich, ich hab zum ersten Mal gedacht, dass es den Richtigen getroffen hat. Mach ich mich jetzt durch diese Aussage verdächtig?«
»Die Gedanken sind frei, wie es so schön heißt. Aber Wrotzeck war doch als Landwirt sehr erfolgreich. Wie kam es dazu, wenn er angeblich so unausstehlich war?«
Köhler lachte kurz auf und sah Brandt und Eberl an. »Zum einen hat er ein sehr gutes Erbe angetreten, denn sein Vater hat ihm allerbestes Land hinterlassen. Und zum andern hat er zwei Zuchtbullen, mit denen er unzählige Preise und Auszeichnungen gewonnen hat. Sie glauben gar nicht, was schon ein einziger preisgekrönter Zuchtbulle wert ist. Wenn man dann auch noch zwei hat, da kommt was zusammen. Seine Kunden kamen aus ganzDeutschland, manche sogar aus dem Ausland, um ihre Kühe besamen zu lassen.«
»Die sind extra mit ihren Kühen hergekommen, um …«
»Nein, nein«, erwiderte Köhler lachend, »so funktioniert das heutzutage nicht mehr. Die Bullen springen nicht mehr auf die Kühe drauf, die Besamung erfolgt fast nur noch künstlich. Der Samen wird eingefroren und erst vor Ort aufgetaut und in den Uterus der Kuh eingeführt. Die Bullen haben also keinen Spaß mehr bei der Sache. Da haben die Menschen es besser«, sagte er schmunzelnd, um gleich wieder ernst zu werden. »Der Unterschied zwischen Wrotzeck und mir ist, dass ich die Landwirtschaft zwar auch von meinem Vater gelernt habe, aber ich habe auch Agrarwissenschaften studiert. Ich arbeite
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