Schrei der Nachtigall
liegt.«
»Tut mir leid, aber ganz ehrlich, ich wusste nicht, wie ich’s dir sagen sollte, vor allem, weil du und Peter, na ja, ihr beide funkt ja nicht gerade auf einer Wellenlänge.«
»Ja und? Wir sind hin und wieder nicht einer Meinung, aber letztendlich hat die Zusammenarbeit immer geklappt. Wie ernst ist es denn?«
»Können wir ein andermal darüber reden? Ich glaube nämlich, die wollen anfangen, bevor der große Regen kommt.«
»Einverstanden. Und dann will ich wissen, wir ihr zusammengekommen seid. Hast du am Freitagabend schon was vor? Wir könnten essen gehen. Zu unserm Portugiesen. So um acht?«
»Okay, ich werde da sein.«
Sie begaben sich zum Grab, wo etwas abseits Brandt mit Thomas Wrotzeck sprach.
»Gehen Sie nach Hause, so eine Graböffnung ist nicht sehr angenehm.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, wie ich zu meinem Vater gestanden habe. Nein, ich will diesen letzten Triumph genießen.«
»Was für einen Triumph?«
»Wie der Alte noch mal rausgeholt wird. Der hat seine letzte Ruhe noch längst nicht gefunden. Jetzt wird er sogar aufgeschnitten. Geschieht ihm recht.«
»Wenn Sie meinen, dann bleiben Sie eben. Was sagt Ihre Mutter denn dazu?«
»Das ist doch wohl meine Entscheidung. Außerdemhabe ich mit Pfarrer Lehnert gesprochen. Dort drüben steht er, na ja, ist ja auch nicht zu übersehen. Er kennt meine Einstellung.«
Brandt sah den Mann, der in sein Priestergewand gekleidet neben dem Grab stand und zu ihnen herübersah. »Es ist in der Tat Ihre Entscheidung«, sagte Brandt nur und begab sich zum Pfarrer. »N’abend. Brandt, Kripo Offenbach.«
Lehnert sah Brandt mit versteinerter Miene an. »Ich frage mich, was für einen Sinn dieser ganze Aufwand hier haben soll. Thomas, ich meine Herr Wrotzeck, hat mich vorhin angerufen und mir von Ihrem Besuch bei ihm berichtet. Sie sind also der Ansicht, dass der Verblichene keines natürlichen Todes gestorben sei …«
»Herr Lehnert, das ist jetzt der denkbar ungünstigste Moment, um über meine Ansichten zu sprechen. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns vielleicht morgen in aller Ruhe unterhalten könnten. Wann würde es Ihnen am besten passen? Ich richte mich ganz nach Ihnen.«
»Was erwarten Sie von mir?«
Ohne darauf zu antworten, sagte Brandt, während der Bagger angeworfen wurde: »So um zehn?«
»Halb elf wäre mir lieber. Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie die Ruhe der Toten stören?« Der Gesichtsausdruck von Lehnert hatte sich nicht verändert, er hatte die Mimik eines Steins.
»Sicher. Aber glauben Sie mir, ich tue das nur sehr ungern. Wo soll ich hinkommen?«
»Meine Gemeinde und auch meine Wohnung befinden sich im Ortskern von Bruchköbel. Sie können es gar nichtverfehlen. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel, ich bin an meine Schweigepflicht und das Beichtgeheimnis gebunden, wie Ihnen sicher bekannt ist.«
»Ich auch, ich meine die Schweigepflicht.«
Er hatte die letzten Worte kaum ausgesprochen, als der Regen einsetzte. Erst nur ein paar dicke Tropfen, die auf die ausgetrocknete Erde klatschten, doch innerhalb von Sekunden gingen diese in einen gewaltigen Schauer über, immer wieder zuckten Blitze über den Himmel und krachten Donnerschläge im Sekundentakt, und heftige Sturmböen bogen die Bäume gefährlich weit nach unten.
»Ich glaube, da gefällt jemandem nicht, was Sie hier treiben«, sagte Lehnert, dessen Worte im Krach der Naturgewalt unterzugehen drohten.
»Fragt sich nur, wem das nicht gefällt«, entgegnete Brandt lakonisch. Im Licht der ständig durch den Himmel fahrenden Blitze betrachtete er Lehnert von der Seite. Er schätzte ihn auf Mitte bis Ende fünfzig, ein Mann, von dem er nicht einmal genau sagen konnte, ob er ihn sympathisch fand oder eher eine Abneigung verspürte, dazu war Lehnert noch viel zu verschlossen. Aber womöglich lag es auch nur an der makabren Situation, nachts, mitten auf dem kleinen Friedhof, der von den Scheinwerfern des Baggers in ein unnatürlich gespenstisches Licht getaucht wurde.
Die Exhumierung dauerte eine knappe halbe Stunde. Der noch fast unversehrte Sarg wurde notdürftig gesäubert, sofern dies nicht schon vom prasselnden Regen erledigt worden war, und in den Leichenwagen geschoben. Elvira Klein und Andrea Sievers, die beide wie frisch geduschtaussahen, kamen auf Brandt zu (Lehnert hatte mittlerweile unbemerkt den Ort des Geschehens verlassen). Klein sagte, während ihr das Wasser übers Gesicht lief und sie zu frieren schien: »Damit hätten wir den
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