Schrei der Nachtigall
Glas Orangensaft zu sich. Dann griff er zum Telefon und wählte Andreas Nummer.
»Na, hast du dich wieder mal heimlich aus dem Staub gemacht. Was hat dich denn in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus getrieben? Hab ich etwa zu laut geschnarcht?«
Andrea ging auf den Scherz nicht ein, sondern antwortete: »Ich hätte dich sowieso gleich angerufen. Hör zu, ich wollte vor meinen Kollegen hier sein, um mir den Burschen näher zu betrachten. Erzähl mir bitte noch mal kurz, in welcher Lage er aufgefunden wurde.«
»Auf dem Bauch. Warum?«
»Und er ist aus etwa vier Meter Höhe gefallen?«
»So in etwa.«
»Okay, dann halt dich fest. Wrotzeck hat eine nicht sehr große Wunde am Hinterkopf, die man allerdings wegen seines vollen Haars leicht übersieht. Am besten kommst du her und schaust es dir selber an. Und bring vor allem die Fotos mit, die am Unfallort gemacht wurden. Wann kannst du hier sein?«
»In spätestens einer Stunde. Ich muss noch ins Präsidium, die Akte holen, und kämpf mich dann durch den Berufsverkehr. Bis gleich.«
Er kleidete sich schnell an, fuhr sich mit der Bürste durchs Haar und besprühte sich mit Eau de Toilette, auch wenn er damit den Geruch der Pathologie, wo sich seinerMeinung nach der Gestank tausender aufgeschnittener Leichen in allen Ritzen festgesetzt hatte, nicht wirklich würde übertünchen können. Und wenn Andrea ihn auch als Mimose bezeichnete, was sollte er tun, wenn sein Magen selbst nach über fünfundzwanzig Jahren als Polizist und vielen Besuchen in der Pathologie beim Anblick der Toten rebellierte? Noch immer war ihm schleierhaft, wie eine hübsche junge Frau wie Andrea sich einen solchen Beruf aussuchen konnte. Andererseits hätten sie sich sonst nie kennengelernt. Und sie hatte ihm in den vergangenen anderthalb Jahren seine Abneigung gegen die Räumlichkeiten der Rechtsmedizin zumindest einigermaßen nehmen können. Dennoch steckte er die Flasche mit dem Eau de Toilette ein, wie jedes Mal, wenn er zu ihr in die Gruft stieg, wie er ihren Arbeitsplatz nannte.
Er fuhr ins Präsidium, begrüßte Spitzer und Eberl, nahm die Akte vom Tisch und verabschiedete sich gleich darauf wieder.
»Moment, nicht so schnell«, sagte Spitzer. »Wohin so eilig?«
»Offenbach-West«, antwortete er trocken.
»Und dort?«
»Mich mit Toten unterhalten, sie ein bisschen aufmuntern und so weiter. Bericht kommt später. Ach ja, bevor ich’s vergesse, die Klein weiß Bescheid, was Andrea und mich betrifft, ihr braucht euch also nicht mehr zu verstellen. Ich frag mich allerdings, von wem sie es weiß.« Er zog die Augenbrauen hoch und schaute erst Spitzer, dann Eberl an, die beide ein unschuldiges Gesicht machten. »Wir sehen uns.«
»Jetzt mal langsam. Ist gestern bei der Exhumierung alles glatt gegangen?«, fragte Spitzer.
»Ja, wenn man davon absieht, dass wir fast weggeschwommen sind …«
»Oh, euch hat das Unwetter erwischt«, sagte Eberl spöttisch. »Was für ein Glück, dass ich nicht dabei sein musste. Vielleicht hat Wrotzeck euch das geschickt, als kleine Rache dafür, dass ihr seine Ruhe gestört habt.«
»Mag schon sein. Vielleicht hat er aber auch ein schlechtes Gewissen und wollte verhindern, dass wir ihn ausgraben. Ciao, bis später.«
Noch bevor einer der andern etwas entgegnen konnte, war er nach draußen verschwunden und hatte die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen.
Um kurz vor halb neun traf er in der Rechtsmedizin ein. Vor dem Eingang noch ein paar Spritzer Eau de Toilette, dann begab er sich nach unten und vermied es, tief einzuatmen. Andrea machte sich ein paar Notizen, eine Zigarette glimmte vor ihr im Aschenbecher. Sie blickte auf, als Brandt hereinkam, nahm einen letzten Zug und drückte die Kippe aus.
»Hi«, sagte sie, »bereit?«
»Ist das die ganze Begrüßung?«, fragte er.
»Heute ja. Komm, ich muss dir was zeigen. Oder nein, gib mir erst mal die Fotos.«
Er reichte sie ihr. Sie ging vor ihm zu dem Metalltisch, auf dem Wrotzeck lag, nickte und bedeutete Brandt, näher an den Tisch zu kommen.
»Also, Wrotzeck wurde auf dem Bauch liegend gefunden, die Fotos bestätigen dies. Der Genickbruch stammtdefinitiv vom Sturz, aber dass es ein Unfall war, wage ich stark zu bezweifeln. Hier«, sagte sie und zeigte auf eine Stelle am Hinterkopf, »das muss ihm unmittelbar vor dem Unfall zugefügt worden sein. Selbst jetzt kann man noch sehen, dass die Wunde bei seinem Ableben sehr frisch war …«
»Und wenn er sich kurz vorher mit jemandem geprügelt
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