Schrei der Nachtigall
ersten Teil hinter uns. Ich hoffe nur, wir haben uns nicht umsonst die Nacht um die Ohren geschlagen.« Und an Andrea gewandt: »Was glaubst du, wann du das Ergebnis vorliegen hast? Ich würde ja gerne selber bei der Autopsie dabei sein, aber ich habe morgen vormittag einen Gerichtstermin. Ich schick auf jeden Fall jemand anderen vorbei.« Brandt glaubte nicht richtig zu hören – »ich würde ja gerne selber bei der Autopsie dabei sein«.
»Kommt drauf an. Vielleicht schon morgen abend, aber leg mich bitte nicht drauf fest. Ich weiß nicht, wer von meinen Kollegen noch mit dabei ist, wir werden jedenfalls unser Bestes tun.«
»Ich werde mich ausnahmsweise in Geduld üben. Ist zwar nicht unbedingt meine Stärke«, sagte sie beinahe charmant lächelnd und sah dabei Brandt an, »aber das ist ja wohl inzwischen hinlänglich bekannt.«
»Also ich bin ganz ehrlich, ich kann’s kaum abwarten«, erwiderte Brandt, der wie alle andern bis auf die Haut durchnässt war, und gab Andrea das Zeichen zum Aufbruch. Vor dem Friedhof hatten sich trotz des Gewitters mehrere Neugierige versammelt, die von den Schutzpolizisten am Betreten des Friedhofs gehindert wurden. Die meisten verhielten sich ruhig, nur ein paar äußerten sich negativ über Wrotzeck, nicht laut, eher verhalten, aber dennoch so, dass Brandt es hören konnte. Und wenn er die Gesichter, die er im Dunkel erkennen konnte, richtig deutete,so schien keiner die gerade stattgefundene Aktion zu bedauern.
Auf der Heimfahrt fragte Brandt: »Und, war es so schlimm?«
»Ich treff mich mit ihr am Freitagabend beim Portugiesen in Frankfurt. Kannst du dich erinnern, dort haben wir uns zum ersten Mal außerhalb der Dienstzeit getroffen. Wird Zeit, dass wir mal wieder richtig quatschen.«
»So von Frau zu Frau?«
Andrea lachte auf. »Sie hat gesagt, von Freundin zu Freundin. Mal sehen, was draus wird. Mann, was ist mir auf einmal kalt. Das Wetter kann sich auch nicht richtig entscheiden, was es will.«
»Es wird kühler. Sagt der Wetterbericht. Da kann man auch wieder klarer denken. Ich möchte jetzt jedenfalls nur noch ins Bett, morgen wird wieder ein sehr langer Tag.«
»Wieso?«
»Wieso? Glaubst du vielleicht, ich sitze nur in meinem Büro und warte drauf, bis du das Ergebnis durchgibst? Es gilt ein paar Leute zu befragen, unter anderem diesen Caffarelli und den Pfarrer.«
»Wen?«
»Caffarelli, der Leiter des Chors, in dem die kleine Wrotzeck gesungen hat. Er besucht sie jeden Tag im Krankenhaus. Die Ärztin hat nur gesagt, dass er Allegra immer was vorliest, ihr Geschichten erzählt und Lieder vorsingt. Keine Ahnung, warum er das macht. Wenn die Beschreibung stimmt, hab ich ihn heute nachmittag auch kurz auf dem Wrotzeck-Hof gesehen.«
»Vielleicht der tröstende Lover der trauernden Witwe.«
»Quatsch! Die Frau hätte sich niemals erlauben dürfen, einen Geliebten zu haben. Ihr Mann hätte sie mit Sicherheit totgeschlagen und ihren Lover auch. Aber ich bin einfach zu müde, um noch irgendwelche Spekulationen anzustellen. Doch eins muss ich noch loswerden – die Klein hat vorhin gesagt, sie wäre gerne selber bei der Autopsie dabei …«
»Sie war schon oft bei mir, wenn wir unsere werten Gäste aufgeschnitten und ausgenommen haben. Die hat kein Problem damit. Liegt wohl daran, dass sie eine Frau ist. Wir sind nun mal härter im Nehmen. Ich sag dir doch immer, du unterschätzt Elvira. Und sie sprüht sich auch nicht jedes Mal vorher mit Parfum voll, dass es noch eine ganze Woche bei uns zu riechen ist«, sagte Andrea, ein Seitenhieb in seine Richtung. »Schreib dir das mal hinter die Ohren.«
»Wieso, ich hab doch auch kein solches Problem mit euch Leichenschändern.«
»Nee, damit nicht, aber mit den Leichen.«
Zu Hause angekommen, zogen sie schnell ihre nassen Kleider aus, tranken jeder noch ein Glas Bier und gingen zu Bett. Andrea schlief in Brandts Arm ein, wie so oft, während er wieder einmal trotz aller Müdigkeit keine Ruhe fand und noch lange wach lag, bis auch ihn der Schlaf übermannte.
Donnerstag, 7.30 Uhr
Peter Brandt wachte nach einer viel zu kurzen Nacht um fünf nach sieben auf. Das Bett neben ihm war leer, Andrea hatte eine Notiz auf dem Esstisch hinterlassen,dass sie schon um Viertel nach sechs in die Rechtsmedizin gefahren sei. Er ging ins Bad, duschte ausgiebig, wusch sich die Haare, putzte die Zähne, betrachtete sich abschließend im Spiegel und dachte grinsend: Du wirst alt, mein Alter. Zum Frühstück nahm er nur eine Banane und ein
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