Schrei der Nachtigall
Augen aufzumachen.«
»Was …«
»Sie will Ihnen etwas sagen, und sie wird es auch tun. Schon sehr bald. Halten Sie mich ruhig für verrückt, aber das alles ist kein Zufall. Sie hätte schon vor einer Woche oder vorgestern oder erst in einem halben Jahr aufwachen können, aber nein, sie hat es einen Tag nach Ihrem Besuchgemacht. Das ist kein Zufall, es gibt ohnehin keine Zufälle. Sie bekommt viel mehr mit, als wir alle glauben, das heißt, als die Ärzte und Schwestern und auch ihre Familie glauben. Ich habe es immer schon gewusst. Versprechen Sie mir, dass Sie wieder zu ihr gehen?«
»Das verspreche ich gerne.« Brandt erinnerte sich sehr wohl an den gestrigen Tag bei Allegra, an das überraschte Gesicht der Ärztin, als der Herzschlag des Mädchens sich beschleunigte, nachdem er aufgestanden war, und sich wieder beruhigte, als er ihre Hand hielt. Vielleicht hatte Caffarelli ja recht, vielleicht war es tatsächlich sein Besuch gewesen, aber vielleicht war es auch nur ein Zufall.
»Morgen?«
»Ich werde versuchen, es einzurichten.«
»Ich danke Ihnen. Und kommen Sie gut nach Hause.«
»Danke. Ach ja, beinahe hätte ich’s vergessen, hier ist meine Karte, falls Ihnen noch etwas einfällt.«
»Auf Wiedersehen, Commissario«, sagte Caffarelli lächelnd.
»Wiedersehen, und nochmals vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Caffarelli und Brandt waren bereits an der Wohnzimmertür, als Brandt fragte: »Kennen Sie eigentlich Dr. Müller, den Tierarzt?«
»Natürlich, die meisten hier kennen ihn.«
»Wissen Sie von der Freundschaft zwischen ihm und Herrn Wrotzeck?«
»Nein, das ist mir neu. Ich wusste nicht, dass Herr Wrotzeck überhaupt Freunde hatte«, antwortete Caffarelli, ohne dabei abfällig zu wirken.
»Gut, das war’s schon. Jetzt bin ich endgültig weg.«
Anna Caffarelli kam aus der Küche, als sie die Stimmen der Männer hörte. Sie wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und verabschiedete sich von Brandt. Schritte auf der Treppe, Luca.
»Du bist schon da?«, sagte sie.
»Siehst du doch«, war die flapsige Antwort. Er zwängte sich an Brandt vorbei und verschwand in seinem Zimmer.
Anna sah ihren Mann ratlos an. Brandt sagte: »Ich kenne diesen Ausdruck, ich habe zwei Töchter. Wenn sie so sind, lasse ich sie meistens allein.«
»Ich werde trotzdem mal nach ihm schauen«, erwiderte Anna, während Brandt von Caffarelli zur Haustür begleitet wurde. Sie schüttelten die Hände und wünschten sich gegenseitig noch einen schönen Abend. Auf dem Weg zum Auto dachte Brandt: Den werde ich ganz sicher nicht haben, irgendwann mal wieder, wenn dieser ganze Mist vorbei ist. Ein Blick auf die Uhr, Viertel nach zehn. Er hatte die Adressen von drei Clubs und die Namen von fünf Frauen, die dort arbeiteten. Und da Andrea sowieso in ihrer Wohnung übernachtete und Sarah und Michelle bei seinen Eltern schliefen, würde er noch einen Abstecher zu wenigstens einem der Clubs machen, wo zwei der Damen arbeiteten. Fragen stellen, ein wesentlicher Bestandteil seines Berufs.
Das Radio lief leise, und er dachte über das Gespräch mit Matteo Caffarelli nach. Und es waren zwei Fragen, die ihn beschäftigten: Was für ein Erlebnis hatte Pfarrer Lehnert vor gut drei Jahren gehabt, das ihn urplötzlich von einem, wie Caffarelli berichtete, extrovertierten zu einemextrem introvertierten, zu keinem Lachen mehr fähigen Mann gemacht hatte? Und gab es etwas, das etwa zu dieser Zeit in Bruchköbel geschehen war, das in Zusammenhang damit gebracht werden konnte? Er würde Lehnert darauf ansprechen, auch wenn ihm klar war, dass er keine oder nur eine unbefriedigende Antwort bekommen würde.
Um zwanzig vor elf hielt er vor dem Club in Hanau, klingelte, ein breitschultriger Mann öffnete die Tür und musterte Brandt kritisch. Brandt hielt seinen Ausweis hoch und wurde eingelassen. Er fragte nach Carmen und Monika. Der Türsteher nannte den Namen Carmen und deutete auf eine junge Dame mit pechschwarzen langen Haaren und strahlend blauen Augen, die am Tresen in ein Gespräch mit einem älteren Herrn vertieft war. Brandt stellte sich daneben, zeigte ein weiteres Mal seinen Ausweis und bat Carmen, sie unter vier Augen zu sprechen. Sie begaben sich in ein Séparée. Erst jetzt hatte er Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Sie trug einen Hauch von Nichts, ihre Beine waren endlos lang, die Brüste groß und doch fest und, so vermutete Brandt, mit Silikon aufgepumpt. Im diffusen Licht der Bar hatte sie ein hübsches Gesicht, aber
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