Schrei der Nachtigall
genommen. Trotzdem war es sehr unerfreulich für uns alle. Aber Allegra hat sich davon nicht beeindrucken lassen, sie kam schon zur nächsten Probe wieder.«
»Haben Sie danach mit ihm gesprochen?«
»Ja, das habe ich. Ich habe ihm gesagt, was für ein unglaubliches Naturtalent Allegra ist und dass man ein solches Talent nicht einfach vergeuden darf. Erst hat er nicht zuhören wollen, aber schließlich hat er gemeint, sie soll doch machen, was sie will. Ab da habe ich ihn nur noch einmal in der Klinik gesehen.«
»Wie hat er reagiert, als er Sie dort angetroffen hat? Oder wusste er von Ihren Besuchen bei seiner Tochter?«
»Er wusste es nicht und ist ziemlich ausfällig geworden und hat mir verboten, sie weiterhin zu besuchen.«
»Sie haben sich aber nicht daran gehalten. Hatten Sie denn keine Angst vor ihm?«
»Nein. Er hat gebellt, aber nicht gebissen. Außerdem hat er Allegra fast überhaupt nicht besucht. Ich glaube, er hat keine Anteilnahme verspürt. Er war ein armer Mann.«
Brandt versuchte zu ergründen, warum Matteo Caffarelli kein schlechtes Wort für Wrotzeck fand, obwohl er genügend Grund gehabt hätte. Jeder andere hätte zumindest die eine oder andere abfällige Bemerkung fallen lassen, doch nicht Caffarelli. Es war, als würde neben ihm, dem mit allen Wassern gewaschenen Kommissar, ein Mann sitzen, der die Menschen einfach nur liebte. Seine Augen drückten es aus, seine Haltung, seine Stimme. Leise und doch verständlich und voller Wärme. Ein Mann, wie ihn Brandt in all den Jahren bei der Polizei nicht kennengelernt hatte.
»Ich habe heute auch mit Pfarrer Lehnert gesprochen. Ist er eigentlich immer so … griesgrämig? Verzeihen Sie, aber das ist mir ziemlich stark aufgefallen. Ich meine, das ist doch für einen Pfarrer nicht normal, es sei denn, erglaubt, Gott habe ihm verboten, zu lachen oder wenigstens zu lächeln.«
Caffarelli nahm noch einen Schluck und stellte das Glas auf den Marmortisch. Seine Miene wurde schlagartig ernst, fast traurig. »Früher hat er gelacht, er war ein sehr fröhlicher Mensch, fast wie Don Camillo.« Er machte eine Pause, als müsste er sich innerlich ordnen, und sagte schließlich: »Aber das hat ganz plötzlich aufgehört. Ich kenne ihn, seit ich hier wohne. Ich gehe jeden Sonntag mit meiner Familie in die Kirche, und ich habe ihn bei vielen Anlässen erlebt. Er hat gelacht, er hat gegessen und getrunken, und er war immer für seine Gemeinde da. Aber von einem Tag auf den andern hat er sich zurückgezogen, nahm nicht mehr an irgendwelchen Festen teil, hat sich fast ausschließlich in seiner Wohnung aufgehalten und tut es auch immer noch. Das einzige, was er noch macht, ist, die Gottesdienste abzuhalten, die aber nicht mehr die Qualität von früher haben. Und natürlich steht er den Mitgliedern für die Beichte zur Verfügung oder für Trauungen oder Beerdigungen.«
Brandt hatte die Frage mehr beiläufig und intuitiv gestellt, doch nun, nach Caffarellis Erklärungen, fragte er sich, was wohl der Grund für diesen Wandel gewesen sein mochte.
»Haben Sie eine Erklärung für diese ungewöhnliche Ernsthaftigkeit?«
Caffarelli schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe keine Erklärung. Es scheint, als ob jede Lebensfreude aus ihm gewichen wäre.«
»Seit wann ist er so ernst?«, fragte Brandt mit zusammengekniffenenAugen. War der Auslöser für Lehnerts Verhalten vielleicht ein Erlebnis, das ihn derart erschüttert und auch geprägt hat, dass er praktisch von einer Minute zur andern sein Lachen und auch seine Lebensfreude verloren hat? Und Brandt fühlte sich durch die Antwort von Matteo Caffarelli bestätigt, die dieser nach einigem Überlegen gab.
»Das war vor etwas über drei Jahren, als er aufhörte, Freude zu zeigen. Manchmal glaube ich, dass er ein besonderes Erlebnis gehabt haben muss, eins, das ihn so erschüttert hat, dass ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Lachen für immer vergangen ist.«
»Vor drei Jahren? Ist da irgendwas Besonderes hier im Ort passiert?«
»Nicht dass ich wüsste. Ich kann mir nicht erklären, was diese Veränderung bei ihm ausgelöst hat. Ich weiß nur eins, er ist ein guter, ein sehr guter Mensch mit einem großen Herzen.« Mit einem Mal fasste sich Caffarelli an die Stirn und sagte: »Ich kann mich an eine Begebenheit aus der Zeit erinnern. Wir hatten gerade Chorprobe, als Herr Lehnert an uns vorbeilief, und er war kalkweiß im Gesicht. Sonst hat er immer für ein paar Minuten bei uns gestanden und uns zugehört, manchmal
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