Schrei der Nachtigall
Hoffnungen, Luftschlösser und Wünsche, von denen er jedoch ahnte, dass sie wie Seifenblasen zerplatzen würden. Nein, es war nicht nur eine bloße Ahnung, sondern eine Gewissheit, die tief in ihm drinsteckte und ihm sagte, dass er sich keine Hoffnungenmachen solle. Diese innere Stimme, die er von seinem Vater geerbt zu haben schien, wie er überhaupt sehr viel von ihm hatte. Er ging Streitigkeiten aus dem Weg, er versuchte, in jedem das Gute zu sehen, was auch an der Erziehung lag, die er genossen hatte. Und es gab vieles mehr, was er an guten Eigenschaften aufwies und auf das seine Eltern stolz waren.
»Dein Papa wollte dir nur erzählen, dass er heute bei Allegra war und sie zum ersten Mal etwas gesagt hat. Ist das nicht wunderbar?«
»Echt?«, stieß Luca mit einem Strahlen hervor, das sein ganzes Gesicht überzog. »Aber was gibt es da zu verstehen?«
»Nun, keiner weiß, ob das von Dauer ist, denn sie ist wieder eingeschlafen«, sagte Matteo. »Du magst sie sehr, aber ich würde mir an deiner Stelle nicht zu große Hoffnungen machen. Das ist es, was ich dir sagen wollte.«
»Und was glaubst du? Wird sie wieder so sein wie vorher?«
»Schon möglich. Aber denk dran, sie hat den Mann verloren, den sie heiraten wollte. Wenn sie erfährt, dass er tot ist …«
»Wir werden ihr alle helfen, darüber hinwegzukommen«, sagte Luca mit entschlossener Miene. »Sie wird es schaffen.«
»Natürlich wird sie es schaffen«, pflichtete Matteo seinem Sohn bei, »aber es kann eine sehr lange Zeit vergehen, bis sie wieder völlig hergestellt ist. Und jetzt geh ich ins Bett, es war ein langer und aufregender Tag.«
»Ich zieh mir noch eine oder zwei DVDs rein«, sagteLuca, der einen Computer, einen Fernsehapparat und eine Hi-Fi-Anlage in seinem Zimmer stehen hatte. Matteo, der selbst nur selten fern sah, hätte seinem Sohn nie verboten, mit der Zeit zu gehen, solange es sich in einem angemessenen finanziellen Rahmen hielt.
»Aber nicht so laut, bitte.«
»Mama, du weißt doch, dass ich abends immer die Kopfhörer aufsetze. Nacht«, sagte er, erhob sich und gab erst seiner Mutter, dann seinem Vater einen Kuss auf die Wange.
Matteo sah ihm nach, bis er das Zimmer verlassen hatte, und erst als Luca auch die Tür zu seinem Zimmer zugemacht hatte, sagte er: »Es wird eine schwere Zeit auf mich zukommen. Ich habe Angst davor.«
»Lass uns ins Bett gehen, es hat keinen Sinn, jetzt darüber nachzudenken.« Anna begab sich ins Bad, während Matteo sich in der Küche noch ein Glas Wasser einschenkte und in langsamen Schlucken trank. Er holte aus dem Wohnzimmer die Uhr, die Brandt ihm anvertraut hatte, und betrachtete sie lange, dieses Kunstwerk, dieses in feinster Handarbeit gefertigte Unikat. Er beneidete Brandt darum.
Freitag, 6.45 Uhr
Brandt hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Er war um halb eins erschöpft ins Bett gefallen und lag doch noch lange wach. Als er endlich schlief, wurde er von quälenden Alpträumen geplagt, an die er sich jedoch nur schemenhaft erinnern konnte. Er stellte den Wecker aus,blieb noch einen Augenblick liegen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und dachte über den vergangenen Tag nach. Gleich mehrere Fragen beschäftigten ihn, deren Antworten er aber nicht zu Hause, sondern in Bruchköbel erhalten würde. Um sieben stand er auf. Er fühlte sich wie gerädert und eigentlich gar nicht fit. Nachdem er die Fenster geöffnet hatte, um die frische, kühle Luft hereinzulassen, sah er sich in der Wohnung um, die zumindest einigermaßen aufgeräumt war, und trank, bevor er ins Bad ging, ein Glas Orangensaft. Er sah die drei Bananen in der Obstschale, die alle schon braune Flecken hatten, aß zwei und würde sich nachher beim Bäcker zwei Stückchen holen und eine Tasse Kaffee trinken. Ihm fiel ein, dass Bernhard Spitzer sich noch gar nicht wegen der Nachforschungen, die er über Wrotzeck anstellen wollte, gemeldet hatte. Brandt überlegte, ob er im Präsidium vorbeifahren oder lieber anrufen sollte, und entschied sich für ersteres. Aber zunächst würde er duschen, um einen klaren Kopf zu bekommen, und sich allmählich auf den Tag vorbereiten.
Bevor er das Haus um acht Uhr verließ, wählte er die Nummer von Andrea Sievers in der Rechtsmedizin.
»Sievers.«
»Hi, ich bin’s. Ich wollte dir nur einen guten Morgen und einen schönen Tag wünschen«, meldete sich Brandt. »Und ich wollte dir sagen, dass ich dich vermisse.«
»Das ist aber schön. Was machst du gerade, außer telefonieren
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