Schrei der Nachtigall
Verzweiflung das Leben.
»Nein, da kann keiner helfen. Warum hat er mir das alles verschwiegen? Er hätte doch mit mir reden können, ich bin doch kein Unmensch. Aber wahrscheinlich sieht er mich so, und ich weiß nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll.«
»Stehen Sie zu ihm, allein schon wegen der Kinder. Ich nehme an, Ihre Ehe war vor der ganzen Sache in Ordnung.«
»Ja, schon. Wie entscheiden denn die Richter normalerweise in so einem Fall?«
»Es kommt immer auf den Richter an. Sofern Ihr Mann Reue zeigt und nicht die Schuld bei andern sucht, ist es ziemlich sicher, dass er mit einer Bewährungsstrafe oder einer Geldstrafe davonkommt. Ich werde mir die Akte mal anschauen. Und wenn’s auch noch so abgedroschen klingt, Kopf hoch, die Welt geht davon nicht unter, und Ihr Leben ist nicht vorbei. Sie müssen jetzt beide Verantwortung übernehmen, und wenn Sie das gemeinsam machen, schaffen Sie es auch.«
»Danke. Das ist für mich trotzdem alles unbegreiflich. Kommen Sie gut heim.«
»Gute Nacht.«
Brandt fuhr um Mitternacht mit einem schalen Geschmack im Mund zurück nach Offenbach und fand einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Er holte sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, löschte das Licht und trank am offenen Fenster. Es war ruhig, eine beinahe gespenstische Stille hatte sich über die Stadt gelegt, sehr still und ungewöhnlich für eine Wochenendnacht. Der Himmel hatte sich zugezogen, es würde wohl bald Regen geben. Während er am Fenster stand und einen Schluck aus der Flasche nahm, dachte er an Andrea und wie der Abend mit Elvira Klein wohl verlaufen war. Er fragte sich, ob sie es ihm berichten oder das Wesentliche für sich behalten würde. Das ist jetzt auch egal, dachte er und legte sich hin.
Er konnte nicht einschlafen, wälzte sich unruhig im Bett, bis er um halb zwei aufstand, sich an den Esstischsetzte, einen Block und einen Kugelschreiber vor sich liegend. Er machte sich Notizen von allem, was er bisher bei seinen Befragungen in Erfahrung gebracht hatte, und fügte Fragen hinzu, die ihm während des Schreibens einfielen. Es waren vor allem Fragen an Köhler und Liane Wrotzeck.
Anschließend legte er die drei Akten, die er von seinem Kollegen Heinzer erhalten hatte, nebeneinander auf den Tisch.
Kurt Wrotzeck, gestorben am 23. Juli 2004. Unfall, Mord oder Totschlag?
Johannes Köhler, bei einem Autounfall ums Leben gekommen in der Nacht vom 16. auf den 17. April 2004, vermutliche Unfallzeit zwischen Mitternacht und 0.30 Uhr.
Inge Köhler, bei einem Autounfall ums Leben gekommen am späten Abend des 23. März 2001. Vermutliche Unfallzeit zwischen 23.30 Uhr und Mitternacht.
Beide Unfallorte lagen nur etwa hundert Meter auseinander. Bei beiden Unfällen hatte es keine Zeugen gegeben. Bei beiden Unfällen hatte die kriminaltechnische Untersuchung keinerlei Defekte an den jeweiligen Fahrzeugen, einem Ford KA, Baujahr 2003, und einem Opel Corsa, Baujahr 2000, ergeben. Die an den jeweiligen Unfallorten gemachten Fotos waren aussagelos, es gab keine Bremsspuren, nur ein paar Splitter von Rücklichtern auf der Straße. Die den Fahrern entnommenen Blutproben wiesen keinerlei Alkoholkonzentration auf. Der Ford KA von Johannes Köhler wurde circa eine halbe Stunde nach dem Unfall entdeckt, der Opel Corsa von Inge Köhler sogar erst eine Stunde später, wie die Analyse der KTU ergebenhatte. Johannes Köhler war laut ärztlichem Gutachten sofort tot, obwohl er angeschnallt war und die Airbags ordnungsgemäß funktioniert hatten. Inge Köhler lebte noch ein paar Minuten, bevor sie im Notarztwagen ihren schweren Verletzungen erlag. Es wurden keine weiteren Ermittlungen angestellt, die Unfälle als ebensolche zu den Akten gelegt. »Unfallursache ungeklärt« war der nüchterne Vermerk. Brandt las die dünnen Berichte mehrfach durch und betrachtete die Fotos mit einer Lupe. Moment, dachte er, streckte sich und lehnte sich zurück, keine Bremsspuren? Wieso gab es keine Bremsspuren? Er blätterte die Seite mit der stichpunktartigen Auflistung der wesentlichen Aussagen der Wrotzecks, von Lehnert, Köhler, Müller und Caffarelli um und notierte:
Unfälle Inge und Johannes Köhler
Keine Bremsspuren – warum nicht?
Wie können Autos, die kaum ein Jahr alt sind und sich laut KTU in technisch einwandfreiem Zustand befanden, einfach so von der Straße abkommen?
Plötzlicher Wildwechsel?
Nicht auszuschließen, aber keine Haare an den Fahrzeugen gefunden.
Ein Reifenplatzer?
Möglich.
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