Schrei der Nachtigall
auf die Couch fallen und vergrub ihr Gesicht in einem Kissen. Auf einmal brach alles aus ihr heraus, und sie heulte sich die Seele aus dem Leib.
Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, wischte sie sich die Tränen ab, schnäuzte sich, zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Nein, sagte sie sich, ich werde nicht aufgeben. Ich bin eine gute Staatsanwältin und ich bin auch kein schlechter Mensch. Und wenn es sein muss, geb ich eben eine Bekanntschafts- oder Heiratsannonce auf. Sie wickelte ein Handtuch um ihre Hüften und setzte sich wieder ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
Freitag, 22.20 Uhr
Gudrun Müller stand in der Tür und rauchte eine Zigarette. Ihr Gesicht hatte etwas Trauriges, Enttäuschtes, Verzweifeltes.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, begrüßte sie ihn, ließ die Zigarette einfach fallen und drückte sie mit der Schuhspitze aus. »Ich habe mir schon vor Jahren das Rauchen abgewöhnt, doch in der letzten Stunde habe ich fünf oder sechs geraucht. Aber hören Sie sich selbst an, was mein Mann Ihnen zu sagen hat. Er wartet oben und ist mit den Nerven ziemlich fertig. Und ich auch.«
»Wollen Sie dabei sein?«, fragte Brandt.
»Ich kenne die Geschichte schon und müsste sie nicht unbedingt ein zweites Mal hören, aber er möchte, dass ich dabei bin. Gehen wir hoch.«
Müller blickte erschrocken auf, als seine Frau mit Brandt ins Zimmer kam. Wie ein Häufchen Elend saß er in die Ecke des Sofas gequetscht.
»N’abend«, sagte Brandt und nahm Platz. »Wie geht es Ihnen?«
»Beschissen.«
Seine Frau setzte sich zu ihm, und er nahm ihre Hand, als wollte er sich daran festhalten.
»Los, bring’s hinter dich. Herr Brandt schlägt sich extra für dich die Nacht um die Ohren. Erzähl ihm genau das, was du mir erzählt hast.«
»Ich kann das nicht«, jammerte er.
»Doch, du kannst. Und wenn du es nicht sagst, werde ich es tun. Also?«
Müller zögerte, nahm einen Schluck Tee und lehnte sich wieder zurück.
»Wrotzeck hat mich erpresst«, stieß er hervor und schwieg dann.
»Das dachte ich mir schon. Aber womit hat er Sie erpresst?«
»Das ist eine lange Geschichte …«
»Nein, ist es nicht«, unterbrach ihn seine Frau leicht ungehalten. »Du kannst es in ein paar wenige Sätze fassen.«
Müllers Blick ging unruhig hin und her, bis er sagte: »Es war vor vier Jahren. Ich bin zu Wrotzeck gerufen worden, weil eine seiner Kühe Probleme beim Kalben hatte. Danach haben wir noch zusammengesessen und was getrunken, vielleicht auch ein bisschen zu viel. Ich hätte eigentlich gar nicht mehr fahren dürfen, aber ich hab mir gedacht, die paar Meter nach Hause …« Er presste die Lippen aufeinander und hielt starr wie ein Kaninchen vor der Schlange inne. Sein Blick ging an Brandt vorbei ins Leere, als würde er fürchten, die folgenden Worte könnten sein Leben endgültig zerstören.
»Und weiter?«, fragte Brandt ruhig, obwohl er ungeduldig war.
»Ich weiß nur noch, dass es wie aus Eimern geschüttet hat. Der Mann stand plötzlich mitten auf der Straße, ich konnte nicht mehr ausweichen. Es hat einen Schlag gegeben und …« Er wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn. »Ich hab angehalten, aber der hat sich nicht mehr gerührt. Da war aber auch kein anderes Auto oder irgend jemand, der mich gesehen hat …«
»Und da sind Sie wieder in Ihren Wagen gestiegen und nach Hause gefahren. Richtig?«
Müller nickte nur.
»Wann genau war das? Ich brauche das Datum.«
»Am 27. Juli 2000. Die Uhrzeit weiß ich nicht mehr, ich war in Panik. Ich wollte nur nach Hause und habe gehofft, das wäre bloß ein böser Alptraum. Aber das war kein Alptraum, ich hab schon am nächsten Morgen im Radio gehört, dass ein Mann von einem Auto angefahren wurde und noch an der Unfallstelle im Notarztwagen gestorben ist. Die haben die Bevölkerung aufgerufen, bei der Suche nach dem Unfallfahrer mitzuhelfen, aber niemand hat mich gesehen. Ich hab jedenfalls tagelang Blut und Wasser geschwitzt, und geschlafen hab ich auch nicht.«
»Hatte Ihr Wagen keine Beule oder Lackschäden?«
»Der ist mir genau vor den Kuhfänger gelaufen. Es gab nur ein paar Blutspuren, die ich leicht abwaschen konnte oder die der Regen schon abgewaschen hatte. Was passiert jetzt mit mir?«
»Es wird ein Verfahren wegen Unfallflucht mit Todesfolge geben. Was dabei rauskommt, kann ich beim besten Willen nicht sagen.«
»Muss ich ins Gefängnis?«, fragte Müller ängstlich.
Brandt hatte Mühe, nach dem
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