Schrei der Nachtigall
dann hätte es ihm nicht so viel Spaß gemacht. Er hatte nur Freude, wenn er andere demütigen konnte, in dem Fall mich. So war er, auch seiner Familie gegenüber.«
»Herr Müller, ich glaube Ihnen nicht. Das mit dem Unfall und der Erpressung schon, aber den Rest nicht. Warum sagen Sie mir nicht endlich die Wahrheit? Haben Sie doch alles bezahlt?«
Müller drückte seine Zigarette aus, warf seiner Frau einen kurzen Blick zu und nickte. »Scheiß drauf, warum soll ich noch weiter lügen! Ja, ich habe alles bezahlt. Jeden Drink, den er genommen hat, jede Hure, die er gefickt hat, alles! Ich hab mich dumm und dämlich geschuftet, aber es hat vorn und hinten nicht gereicht. Schließlich hab ich eine Hypothek aufs Haus aufgenommen, dann noch eine und noch eine. Wäre das noch ein oder zwei Jahre so weitergegangen, ich wäre pleite gewesen. Das einzige, was noch unbelastet ist, sind meine drei Grundstücke. Wenn Carmen sagt, dass wir abwechselnd bezahlt hätten, dann stimmt das auch, nur, ich hab Wrotzeck das Geld immer schon vorher gegeben, obwohl dieser Drecksack im Geld nur so geschwommen ist …«
»Heißt das, wir sind hochverschuldet?«, fragte Gudrun Müller entsetzt, wobei ihre Stimme nicht jene schrillen Höhen erklomm wie am Vormittag, als Brandt sie zum ersten Mal getroffen hatte. Noch hatte sie sich erstaunlich gut in der Gewalt.
Müller antwortete lediglich mit einem Schulterzucken. Hilflosigkeit. Und die pure Verzweiflung in seinen Augen.
»Wie hoch sind unsere Belastungen?«
»Etwas über zweihunderttausend«, murmelte er.
Gudrun Müller sah ihren Mann mit geweiteten Augen an und stieß fassungslos hervor: »Sag, dass das nicht wahr ist! He, sag, dass das nicht wahr ist! Bitte!«
»Doch, es ist wahr.«
»Und das nur, weil du betrunken Auto gefahren bist. Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht so viel trinken … Mein Gott, wie soll das bloß weitergehen? Du wanderstins Gefängnis oder musst eine hohe Geldstrafe zahlen, und wir, wo bleiben wir? Wo bleiben die Kinder und ich? Hast du jemals daran gedacht?« Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, schluchzte, hielt die Situation schließlich nicht mehr aus und rannte aus dem Zimmer. Für sie war eine Welt zusammengebrochen, das Leben hatte eine Dimension erreicht, die sie nicht mehr begreifen konnte.
»Das war’s wohl«, sagte Müller leise und mit leerem Blick.
Brandt atmete tief durch. »Herr Müller, ich kann Ihnen bei Ihren privaten Problemen nicht helfen, aber ich muss Sie das fragen: Wo waren Sie am 23. Juli zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht?«
»In Hanau. Wrotzeck und ich hatten uns dort verabredet. Ich bin so gegen eins wieder heimgefahren. Das können die Angestellten dort bezeugen.«
»Ich werde das nachprüfen. Vorläufig halten Sie sich bitte zu meiner weiteren Verfügung. Was wegen des Unfalls geschieht, entscheidet ein Richter.«
»Das ist mir egal. Ich hab sowieso alles verloren, meine Familie, mein Geld, alles futsch.«
»Ihre Frau steht zu Ihnen, sie ist nur im Augenblick überfordert. Die letzten vierundzwanzig Stunden sind über ihre Kräfte gegangen. Ich würde nicht gleich alles aufgeben …«
»Was soll ich denn noch machen? Ich bin bis zu den Haarspitzen verschuldet, ich habe einen Menschen getötet und ich bin ein verfluchter Feigling. Ich war es immer und werde es auch immer bleiben«, sagte er ohne Selbstmitleid,sondern klar und deutlich, als hätte er seine Lage zum ersten Mal richtig erkannt. Da war kein Jammern mehr, sondern nur noch nüchterne Realität.
»Wenn Sie jetzt alles hinschmeißen, was soll dann aus Ihrer Familie werden? Denken Sie drüber nach. Ich habe Ihre kleine Tochter heute vormittag gesehen, sie ist ein aufgewecktes Kind. Und die andern sind es bestimmt auch.«
»Es sind tolle Kinder, und meine Frau ist eine gute Frau.«
»Dann wissen Sie ja, was jetzt zu tun ist. Und wenn Sie noch Informationen für mich haben, rufen Sie mich an. Voraussichtlich am Montag werden zwei Beamte bei Ihnen vorbeischauen und sich wegen des Unfalls mit Ihnen unterhalten. Und seien Sie bitte nüchtern, ist nur ein guter Rat von mir, wenn Sie verstehen.«
Gudrun Müller stand wieder draußen und rauchte. Ihr Gesicht war verheult, und sie zitterte.
»Kann ich noch irgendwas für Sie tun?«, fragte Brandt, der nur dachte, was so eine Nachricht doch auslösen kann. Manche Leute greifen zur Flasche, andere fangen wieder an zu rauchen, manche gehen sogar den endgültigen Schritt und nehmen sich aus
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