Schrei in der Nacht
antwortete nicht, und mit erhobener Stimme fragte sie
noch einmal: »Stimmt das?«
Ein kurzes gespanntes Schweigen lag
über ihnen, wie sie dort dicht voreinander standen und sich in die
Augen starrten. Plötzlich schien sie zu schwanken, und
während er sie rasch stützte, erwiderte er: »Ein Mann
muß zu Ende führen, was er einmal begonnen hat!«
Traurig nickte sie. »Männer«,
stieß sie hervor, und ihre Stimme war voller Abscheu,
»Männer, mit ihrer Ehre! Und ihren unsinnigen
Spielereien!«
Sie begleitete ihn bis zur Tür; der Regen
trommelte noch immer stetig und pausenlos auf die durchweichte Erde.
Fallon gürtete seinen Mantel enger und zog den Hut tief über
die Augen. Einen kurzen Augenblick standen sie beide unentschlossen auf
der obersten Stufe; dann stieß sie ihn leicht an und sagte
böse: »Gehen Sie doch – gehen Sie in Ihren Tod, Sie
Narr.«
Die Tür schlug hinter ihm ins
Schloß. Er stand da, schaute sich noch einmal um, wandte sich
dann ab und ging durch den verwilderten Garten hinaus auf den
regengepeitschten Platz.
3
Als Fallon am verabredeten Ort ankam, wartete Murphy dort bereits
auf ihn. Der Junge saß hinter dem Lenkrad eines alten Austin und
las eine Zeitung. Fallon trat rasch um den Wagen herum und öffnete
die Tür an der anderen Seite. Mit erschrockenem Gesicht schaute
Murphy auf, lächelte aber dann erleichtert und stieß
fröhlich hervor: »Großer Gott, Sie sind es, Mr.
Fallon. Ich glaubte schon, es wäre die Polizei.«
In Fallon stieg bei diesen Worten ein starkes Mitleid
mit dem Jungen auf. Er wollte ihm sagen, daß dies nun immer so
bliebe: daß in dieser Sache keine Romantik und kein Abenteuer
liege, sondern daß er von nun an ständig in Furcht leben
werde. Aber dann unterließ es Fallon doch und sagte nichts. Er
blickte nur in das eifrige, unbekümmerte Gesicht des Jungen und
erkannte sich selbst darin, wie er vor zwanzig Jahren gewesen war.
Schließlich lächelte er und fragte: »Willst du
rauchen?« Murphy nickte; sie steckten sich eine Zigarette an und
lehnten sich bequem zurück, während der Regen auf das
Wagendach prasselte.
»Gefällt Ihnen der Wagen?« fragte
Murphy. Fallon nickte, und der Junge erzählte: »Ich habe ihn
etwas billiger bekommen; aber ich glaubte, daß er weniger
auffällig sei als ein neuer. Ist es Ihnen recht so?«
Fallon lachte kurz und sagte anerkennend: »Du
hast deinen Verstand gebraucht. Das ist für unsereins die einzige
Möglichkeit, um der Polizei zu entwischen.«
Murphy errötete vor Stolz. »Wollen Sie sich
jetzt das Material ansehen, von dem ich Ihnen erzählt habe, Mr.
Fallon?«
Fallon nickte, und der Bursche ließ den Wagen an und startete
ihn mit einem jähen Satz. »Langsam, langsam«,
ermahnte ihn Fallon. »Es hat keinen Sinn, daß uns die
Polizei ausgerechnet wegen verkehrswidrigen Fahrens aufgreift.«
Murphy setzte die Geschwindigkeit herab, und sie fuhren in
mittlerem Tempo durch den mäßigen Verkehr der
Hauptstraße. Fallon lehnte sich auf seinem Sitz zurück und
zog den Hut wieder tief in die Stirn. Bis jetzt hatte er das Problem,
wie er eigentlich Rogan aus dem Zug befreien wollte, noch nicht richtig
durchdacht. Nun holte er das nach und überschaute nüchtern
seine Aufgabe. Auf den ersten Blick schien sie unlösbar. Dieser
Rogan würde von mindestens vier Kriminalbeamten umgeben sein. Die
Beamten waren zweifellos gut bewaffnet und fuhren in einem
Sonderabteil, möglicherweise sogar in einem reservierten Wagen.
Fallon schüttelte den Kopf. Es sah schlecht aus; es war eine von
jenen Aufgaben, deren Lösung allein von den Umständen abhing
und daher nicht vorher geplant werden konnte, sondern bei der nur List
und Überraschung halfen. Mitten in seinen Überlegungen
stoppte der Wagen plötzlich, und Murphy drehte den Motor ab.
»Wir sind da, Mr. Fallon«, sagte er.
Sie parkten in einer abgelegenen Straße neben
einer hohen Steinmauer. Hinter dieser Mauer reckte sich ein Kirchturm
in den Himmel. Fallon sah sich erstaunt um und fragte: »Irrst du
dich nicht im Ort?«
Der Junge grinste. »Nein, nein, Mr. Fallon. Wir
sind schon richtig; dies ist der sicherste Platz der Welt!« Dann
zog er ein Schlüsselbund aus der Tasche und stieg aus dem Wagen.
In die Mauer war eine feste Pforte eingelassen; der Junge öffnete
sie mit einem seiner Schlüssel.
Gleich darauf befanden sich beide auf
einem Friedhof, von einem Wald von Grabkreuzen und Steinmonumenten
umgeben. Im Hintergrund erhob sich die
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