Schrei in der Nacht
zu reden. Sie mußte alles aus sich herauslassen.
»Und nachts, wenn ich das Gefühl hatte, jemand beugte sich über mich. Er brauchte nur die Schiebetür aufzumachen. Er muß die Perücke getragen haben. In der Nacht, als ich zu dem Baby ging. Ich weckte ihn auf. Ich berührte sein Augenlid. Das war es, was mir angst machte, aber ich habe damals nicht weitergedacht. Es war dasselbe Gefühl wie in den Träumen, wenn ich im Dunkeln nach oben griff — das weiche Augenlid und die dichten Wimpern.«
Mark hielt sie in den Armen, wiegte sie sanft.
»Er hat meine Kinder. Er hat meine Kinder!« Jennys Stimme wurde immer leiser.
»Mrs. Krueger, würden Sie die Hütte wiederfinden?«
Sheriff Gundersons Stimme war voller Dringlichkeit.
Eine Chance, etwas zu tun, irgend etwas. »Ja. Wenn wir vom Friedhof aus gehen…«
»Jenny, das dürfen Sie nicht«, protestierte Mark. »Wir gehen Ihren Spuren von vorhin nach.«
Aber sie wollte sie nicht allein gehen lassen. Sie schaffte es auch tatsächlich, den Weg wiederzufinden, und trat mit Mark, dem Sheriff und Clyde in die Hütte.
Sie zündeten die Petroleumlampen an, die das Innere in anheimelnd warmes Licht tauchten. Sie starrten auf die feine, wie ziselierte Signatur Caroline Bonardi, suchten dann in den Schränken. Aber sie fanden keine persönlichen Dokumente; die Schränke waren bis auf ein wenig Geschirr und ein paar Bestecke leer.
»Irgendwo muß er doch seine Malutensilien aufbewahren«, sagte Mark wütend.
»Aber auf dem Dachboden ist nichts«, sagte Jenny verzweifelt. »Außer dem Bild habe ich nichts gesehen, und der Raum ist winzig.«
»Er kann nicht winzig sein«, erwiderte Clyde. »Er muß den Grundriß der Hütte haben. Vielleicht ist er abgeteilt.«
Es gab einen zweiten Dachraum, der etwa so groß war wie der erste und offenbar als Abstellkammer diente, zu erreichen durch eine schmale Tür in der rechten Ecke, die Jenny im Halbdunkel übersehen hatte. Hier stand eine ganze Reihe weiterer Gestelle mit Bildern von Caroline; eine Kommode mit Malutensilien und eine Staffelei; zwei Koffer waren da, und Jenny sah, daß sie zu dem Kosmetikkoffer paßten, den sie zu Haus auf dem Dachboden gefunden hatte. Auf einem davon lagen ein zusammengefaltetes, langes grünes Cape und eine schwarze Perücke.
»Carolines Cape«, sagte Mark leise.
Jenny fing an, die Kommode zu durchsuchen, aber sie enthielt nur Dinge, die man zum Malen brauchte: Kohle, Farbtuben und Terpentin, Pinsel und unbenutzte Leinwand. Nichts, nichts, was darauf hingewiesen hätte, wohin Erich gefahren war.
Clyde begann, eine Kiste mit Bildern durchzugehen, die neben der Tür stand. »Oh!« rief er entsetzt. Er hatte eine Leinwand herausgezogen, in schmutzigen Grüntönen, die irgendwie an Brackwasser erinnerten.
Eine surrealistische Collage von Erich als kleinem Jungen mit Caroline. Dichtgedrängte Szenen, die einander teilweise überlappten: Erich mit einem Hockeyschläger in der Hand. Caroline, die sich über ein Kalb beugte; Erich stößt sie irgendwohin; sie liegt mit ausgebreiteten Armen in einer Wanne, nein — es ist der Wassertank aus dem Kuhstall; ihre Augen starren zu ihm hoch. Die Spitze des Hockeystocks reißt die Lampe über ihr in den Tank. Erichs Knabengesicht, jetzt zu einer dämonischen Fratze verzogen, die auf die verkrampfte Gestalt im Wasser herunterlacht.
»Er hat Caroline umgebracht«, stöhnte Clyde. »Er hat seine eigene Mutter umgebracht, als er zehn war.«
»Was hast du gesagt?« Sie wirbelten herum. Rooney stand in der Tür zum Speicher, mit großen Augen, die nun nicht mehr ruhig blickten. »Hast du wirklich gedacht, ich wüßte nicht, daß irgend etwas faul war?«
fragte sie. Sie starrte nicht auf die Leinwand in Clydes Hand, sondern auf das Bild, das nun zuoberst in der Kiste lag. Trotz der Verzerrung erkannte Jenny das Gesicht Ardens. Arden schaute durch eines der Fenster in die Hütte. Hinter ihr eine Gestalt in einem Cape, mit Erichs Gesicht. Hände um Ardens Kehle, die Finger von den Händen losgelöst. Arden, wie sie in einem Grab oben auf dem Sarg liegt, wie auf ihren kornblumenblauen Rock Erde geschaufelt wird; und hinter ihrem Kopf die Inschrift eines Grabsteins. Caroline Bonardi-Krueger.
Und in der Ecke die schwungvolle Signatur Erich Krueger.
»Erich hat mein kleines Mädchen umgebracht«, stöhnte Rooney.
Wie betäubt liefen sie durch den Wald zurück. Mark hielt Jenny an der Hand, ein schweigender Mark, der gar nicht erst versuchte, sie mit Worten zu
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