Schrei in der Nacht
Tina vielleicht mit Erich hier waren.
Sie strampelte hastig die Skier ab, schlug mit dem Hammer ein Fenster ein und kletterte über das Sims in die Hütte. Drinnen war es eiskalt, die durchdringende Kälte eines seit langem ungeheizten, sonnenlosen Hauses. Sie kniff die Augen zusammen, um sich an das Halbdunkel zu gewöhnen, ging ans andere Fenster, zog das Rouleau hoch und sah sich um.
Sie sah einen sechs mal sechs Meter großen Raum, einen Kaminofen, einen verschossenen Orientteppich, ein Sofa — und Bilder.
Jeder Zentimeter Wand schien mit Erichs Gemälden bedeckt zu sein. Nicht einmal das unzureichende Licht konnte die überwältigende Kraft und Schönheit seiner Arbeiten verbergen. Wie immer, wenn ihr sein Genie bewußt wurde, fühlte sie plötzlich eine große innere Ruhe. Die Befürchtungen der Nacht kamen ihr auf einmal lächerlich vor.
Der Friede der Sujets, die er gewählt hatte: die Heuraufe — bei einem Schneesturm, die Hirschkuh, die, im Begriff, in den Wald zu fliehen, lauschend den Kopf hob, das Kalb, das bei seiner Mutter trinken wollte. Wie konnte der Mensch, der imstande war, so sensibel und so souverän zu malen, gleichzeitig so feindselig, so mißtrauisch sein?
Sie stand vor einem Gestell voller Leinwände. Etwas an dem vordersten Gemälde fiel ihr ins Auge. Sie begriff nicht, warum, und fing an, schnell die übrigen Bilder durchzusehen. Ja, die Signatur rechts unten. Nicht kühn dahingeworfen wie Erichs Unterschrift, sondern mit feinen Pinselstrichen auf die Leinwand gebracht, eine Signatur, die viel besser zu den friedlichen Themen der Werke paßte. Caroline Bonardi. Auf allen Bildern.
Sie fing an, die Gemälde an den Wänden genau zu betrachten. Die gerahmten waren mit Erich Krueger signiert. Die ungerahmten mit Caroline Bonardi.
Aber Erich hatte doch gesagt, Caroline habe nur wenig Talent gehabt…
Ihr Blick wanderte hin und her zwischen einem gerahmten Bild mit Erichs Signatur und einem ungerahmten, das von Caroline signiert war. Das gleiche diffuse Licht, dieselbe Fichte im Hintergrund, der gleiche Farbauftrag. Erich kopierte Carolines Stil.
Nein!
Die gerahmten Bilder. Das waren die Werke, die er als nächstes ausstellen wollte. Das waren die Arbeiten, die er signiert hatte. Er hatte sie gar nicht gemalt. Alle diese Gemälde stammten aus ein und derselben Hand. Erich verfälschte Carolines Arbeiten mit seinem Namen.
Deshalb war er auch kürzlich so verwirrt, als sie darauf hingewiesen hatte, daß die Ulme auf einer seiner angeblich neuen Arbeiten schon vor Monaten gefällt worden war.
Dann fiel ihr eine Kohleskizze ins Auge. Der Titel lautete ›Selbstporträt‹. Es war ein Kleinformat von
›Erinnerung an Caroline‹, wahrscheinlich die Entwurfskizze, die Caroline gemacht hatte, ehe sie mit dem Bild begann, das ihr Meisterwerk werden sollte.
O Gott. All das — alle Gefühle, die sie Erich aufgrund seiner Arbeiten zugeschrieben hatte, waren eine Lüge.
Aber warum war er dann so viel hier? Was tat er hier?
Sie sah die schmale Treppe, lief hinauf. Wegen der Dachschräge mußte sie sich auf der obersten Stufe bücken, ehe sie den Dachraum betrat.
Als sie sich aufrichtete, wurde sie von glühendintensiven Farben an der hinteren Wand getroffen.
Erschrocken starrte sie auf ihr eigenes Bild. Ein Spiegel?
Nein. Das gemalte Gesicht bewegte sich nicht, als sie näher kam. Das dämmrige Licht, das durch das Lukenfenster fiel, spielte auf der Leinwand, malte wie ein geisterhafter Zeigefinger mit Schatten Streifen darauf.
Eine Collage von Szenen, von brutalen Szenen in brutalen Farben. In der Mitte sie selbst mit qualvoll verzerrtem Mund, auf puppenähnliche Körper hinunterstarrend. Beth und Tina auf der Erde zusammengesunken, mit ihren blauen Jumpern in einem Knäuel, mit hervorquellenden Augen, mit ausgestreckten Zungen und mit blauen Cordgürteln um den Hals geknüpft. Oben im Hintergrund über ihrem Abbild ein Fenster mit einem dunkelblauen Vorhang. Durch den Spalt im Vorhang ein Gesicht — Erich, mit einem triumphierenden, grausamen Grinsen. Und quer über das Bild in grünen und schwarzen Tönen ein schleimiges Lebewesen, halb Frau und halb Schlange — eine Frau mit dem Gesicht Carolines, das Cape wie eine schuppige Schlangenhaut um ihren Leib gehüllt. Caroline, wie sie sich über ein surreales Korbbettchen beugt, ein Korbbettchen, das aus einem Loch im Himmel herunterhängt, und wie sich ihre grotesken, überdimensionalen Hände flossengleich auf das Gesicht des Babys
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