Schrei in der Nacht
aufgestoßen.
»Oh, wen haben wir denn da?« Die Stimme war rauh, als seien die Stimmbänder überanstrengt worden. Der Mann war Mitte Fünfzig. Seine Augen waren blutunterlaufen und glasig, wie bei einem starken Trinker. Er war beängstigend dünn, so daß sein Hosenbund bis auf die Hüftknochen gerutscht war.
Er starrte Jenny an und kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Sie müssen die neue Mrs. Krueger sein, ich habe von Ihnen gehört.«
»Ja.«
»Ich bin Josh Brothers, Joes Onkel.«
Der Elektriker, der für den Unfall verantwortlich war.
Jenny mußte sofort daran denken, daß Erich außer sich sein würde, wenn er von diesem Zusammentreffen erfuhr.
»Ich sehe, warum Erich Sie genommen hat«, sagte Josh schwer. Er drehte sich zu seiner Schwester. »Man könnte schwören, sie ist Caroline, nicht?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fragte er Jenny: »Schätze, Sie haben schon alles über den Unfall gehört, oder?«
»Ja.«
»Die Krueger-Version. Nicht meine.« Josh Brothers war offensichtlich im Begriff, eine oft wiederholte Geschichte zu erzählen. Sie merkte, daß sein Atem nach Whisky roch. Seine Stimme bekam etwas Getragenes.
»John war verrückt nach Caroline, obgleich sie sich scheiden lassen wollten…«
»Scheiden lassen?« unterbrach Jenny. »Sie wollten sich scheiden lassen?« Die trüben Augen blickten auf einmal durchdringend. »Oh, hat Erich Ihnen das nicht gesagt? Er tut lieber so, als sei alles ganz normal gewesen, nicht? Ich kann Ihnen sagen, die Leute hier haben ganz schön gemunkelt, weil Caroline nicht einmal versuchte, sich das Sorgerecht für ihr einziges Kind geben zu lassen. Jedenfalls hab’ ich am Tag des Unfalls im Kuhstall gearbeitet, und Caroline kam mit Erich herein. Sie wollte an jenem Nachmittag für immer fort.
Es war sein Geburtstag, und er hatte seinen neuen Hockeyschläger in der Hand und weinte sich die Augen aus. Sie gab mir ein Zeichen, damit ich rausging, deshalb habe ich die Lampe an den Nagel gehängt. Ich hörte noch, wie sie zu ihm sagte: ›Genau wie dieses kleine Kalb eines Tages von seiner Mutter getrennt werden muß
…‹ Dann war ich draußen und machte die Tür zu, damit sie sich voneinander verabschieden konnten, und eine Minute später fing Erich an zu schreien. Luke Garrett hat auf ihre Brust gedrückt und Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht, aber wir wußten, daß es keinen Zweck hatte.
Als sie ausrutschte und in den Tank fiel, griff sie nach dem Kabel und zog die Lampe mit. Der Stromstoß ging sofort durch sie durch. Sie hatte keine Chance…«
»Josh, halt den Mund«, sagte Maude scharf.
Jenny starrte ihn an. Warum hatte Erich ihr nicht erzählt, daß seine Eltern sich scheiden lassen wollten, daß Caroline ihn und seinen Vater verließ? Und daß er den tragischen Unfall miterlebt hatte! Kein Wunder, daß er jetzt so furchtbar unsicher war, so sehr fürchtete, sie zu verlieren.
Tief in Gedanken versunken, nahm sie die Kinder bei der Hand und murmelte etwas zum Abschied.
Auf dem Heimweg räusperte Joe sich ein paarmal und sagte dann schüchtern: »Ihr Mann wird nicht erfreut sein, wenn er hört, daß meine Ma so viel geredet hat und daß Sie meinen Onkel getroffen haben.«
»Ich werde nicht davon sprechen, Ehrenwort«, beruhigte sie ihn.
Auf der Landstraße zur Krueger-Farm war spätvormittags kein Verkehr. Beth und Tina liefen voran und traten übermütig losen Schnee auf, so daß eine von ihnen immer in eine kleine weiße Wolke gehüllt war.
Jenny war bedrückt und hatte Angst. Sie dachte daran, wie Erich von Caroline gesprochen hatte. Aber kein einziges Mal hatte er auch nur angedeutet, daß sie die Absicht gehabt hatte, ihn zu verlassen.
Wenn ich hier bloß eine Freundin hätte, dachte sie, jemanden, mit dem ich reden könnte. Sie erinnerte sich, daß sie und Nana über jedes Problem diskutieren konnten, das in ihrem Leben auftauchte, daß Fran oft heruntergekommen war, wenn die Mädchen schliefen, um bei einer Tasse Kaffee über alles mögliche zu tratschen.
»Mrs. Krueger«, sagte Joe leise. »Sie sehen aus, als ob es Ihnen nicht gutgeht. Ich hoffe, mein Onkel hat Sie nicht aufgeregt. Ich weiß, daß Ma nicht so gut auf die Kruegers zu sprechen ist, aber nehmen Sie es ihr bitte nicht übel.«
»Schon gut«, versprach Jenny. »Übrigens, Joe, würden Sie mir einen Gefallen tun?«
»Alles, was Sie möchten.«
»Sagen Sie um Himmels willen Jenny zu mir, wenn mein Mann nicht dabei ist. Ich vergesse hier langsam meinen eigenen
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