Schrei in der Nacht
Worte wie ein Wasserfall. Beth und Tina hörten auf, mit dem kleinen Hund zu spielen. »Und noch etwas, was mich vielleicht nichts angeht, aber wie können Sie nur so dumm sein, Ihren Ehemaligen hier herumschleichen zu lassen, wo jeder weiß, daß Erich in seiner Hütte ist und malt!«
»Wovon reden Sie?«
»Ich bin keine Klatschbase, und ich hätte es sicher nie gesagt, aber letzten Monat ist dieser Schauspieler mit dem Sie verheiratet waren, eines Abends hier vorbeigekommen und hat nach dem Weg gefragt. Er redet anscheinend gern. Hat sich vorgestellt und damit angegeben, daß Sie ihn eingeladen haben. Er sagte, er sei gerade vom Guthrie engagiert worden. Ich hab’ ihm den Weg zu Ihrem Haus selbst gezeigt, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei, das kann ich Ihnen flüstern.«
»Sie müssen sofort Sheriff Gunderson anrufen und ihm sagen, was Sie wissen«, sagte Jenny so gefaßt wie möglich. »Kevin ist an jenem Abend nie bis zum Haus gekommen. Der Sheriff stellt Nachforschungen nach ihm an. Er ist offiziell als vermißt gemeldet.«
»Er ist nicht zu Ihnen gekommen?« Maudes ohnehin schon volltönende Stimme wurde noch lauter.
»Nein. Rufen Sie bitte sofort den Sheriff an. Und vielen Dank, daß wir den Hund sehen durften.«
Kevin war bei Maude gewesen!
Er hatte Maude gesagt, sie, Jenny, habe ihn eingeladen.
Maude hatte ihm den Weg zur Farm gezeigt, die mit dem Auto höchstens drei Minuten entfernt war.
Und Kevin ist nicht angekommen.
Wenn Sheriff Gunderson schon recht unverschämt gewesen war mit seinen Andeutungen, wie würde er sich jetzt erst verhalten?
»Mami, du tust mir weh«, protestierte Beth.
»Entschuldige, Liebes, ich wollte deine Hand nicht so fest drücken.«
Sie mußte hier weg. Nein, das war unmöglich. Sie konnte nicht gehen, ehe sie wußte, was mit Kevin geschehen war.
Und das war nicht alles. In ihrem Schoß trug sie den Beginn eines menschlichen Wesens, das ein Krueger der fünften Generation werden würde, das hierhergehörte, dem dieses Land einmal zufallen würde.
Wenn Jenny später an diesen Abend des siebten April zurückdachte, dann betrachtete sie ihn als die letzten ruhigen Stunden ihres Lebens. Erich war nicht zu Hause, als sie und die Mädchen zurückkamen.
Gott sei Dank, dachte sie. Jetzt sehe ich wenigstens ein bißchen klarer. Sobald er kommt, werde ich ihm sagen, was Maude mir erzählt hat.
Wahrscheinlich hatte Maude den Sheriff bereits angerufen. Ob er schon heute abend herkommen würde?
Aus irgendeinem Grund glaubte sie es nicht. Sie fragte sich immer wieder, warum Kevin den Leuten gesagt hatte, sie hätte ihn angerufen und eingeladen. Was war mit ihm passiert?
»Was möchten die jungen Damen zum Essen haben?«
fragte sie.
»Frankfurter«, sagte Beth sehr entschieden.
»Eis«, erklärte Tina hoffnungsvoll.
»Klingt großartig«, sagte Jenny. Sie hatte irgendwo das Gefühl gehabt, die Mädchen entglitten ihr. Heute abend würde sie versuchen, etwas dagegen zu tun.
Tollkühn erlaubte sie den beiden, mit ihren Tellern aufs Sofa zu kommen. Im Fernsehen gab es den Wizard of Oz. Sie aßen gemütlich ihre Würstchen und tranken Cola, während sie sich aneinanderkuschelten und den beliebten Kinderfilm anschauten. Als er vorbei war, schlief Tina auf Jennys Schoß, und Beths Kopf lag an ihrer Schulter. Sie trug die beiden nach oben.
Erst drei Monate waren seit jenem Winterabend vergangen, an dem sie die Mädchen von der Kindertagesstätte nach Haus getragen hatte und Erich plötzlich neben ihr aufgetaucht war. Es hatte keinen Sinn, daran zu denken. Er übernachtete wahrscheinlich wieder in der Hütte. So oder so wollte sie nicht im Ehebett schlafen.
Sie zog die Kinder aus, steckte sie in ihre Pyjamas, tupfte ihnen mit einem Waschlappen, den sie in warmes Wasser getaucht hatte, Gesicht und Hände ab und legte sie ins Bett. Ihr Rücken schmerzte. Sie sollte sie nicht mehr tragen. Zu viel Gewicht, zu anstrengend. Sie brauchte nicht lange, um das Geschirr in die Spülmaschine zu stellen. Sorgfältig suchte sie das Sofa nach Krümeln ab.
Sie erinnerte sich an die Abende früher im Apartment, wenn sie sehr müde war und das Geschirr nur kurz unter laufendes Wasser hielt und dann einfach im Spülbecken stehenließ, um mit einer Tasse Tee und einem guten Buch ins Bett zu gehen. Ich habe gar nicht gewußt, wie gut es mir ging, dachte sie. Aber dann mußte sie an den feuchten Fleck an der Decke denken, an die tägliche Hetze zur Tagesstätte, die dauernden Geldsorgen, das
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