Schrei in der Nacht
ständige Gefühl des Alleinseins.
Als sie aufgeräumt hatte, war es kurz vor neun. Sie ging durch die Zimmer im Erdgeschoß und sah nach, ob noch irgendwo Licht brannte. Im Eßzimmer blieb sie unter Carolines bunter Decke, die an der Wand hing, stehen. Caroline hatte malen wollen, aber ihr Mann hatte sich so lange über sie lustig gemacht, bis sie ihre Kunst aufgab. Sie hatte dann ›etwas Nützliches getan‹.
Caroline hatte elf Jahre gebraucht, um einen Entschluß zu fassen. Erst dann wollte sie tatsächlich weg. Hatte sie ebenfalls das Gefühl, eine Außenstehende zu sein, die nicht hierhergehörte?
Als Jenny langsam die Treppe hinaufging, wurde ihr bewußt, wie nahe sie sich der Frau fühlte, die vor ihr in diesem Haus gelebt hatte. Sie fragte sich, ob Caroline beim Betreten des Schlafzimmers auch das Gefühl gehabt hatte, hoffnungslos in der Falle zu sitzen.
Sheriff Gunderson kam erst im Laufe des Vormittags.
Wieder hatte Jenny unruhige Träume gehabt, wieder hatte sie geträumt, wie sie durch den Wald ging und die Kiefern roch. Ob sie die Hütte gesucht hatte?
Als sie aufwachte, wurde ihr übel, wie schon mehrmals in den letzten Tagen. Inwieweit war dies wohl eine normale Begleiterscheinung der Schwangerschaft, und bis zu welchem Grad hing es mit der Angst wegen Kevins Verschwinden zusammen?
Elsa war wie üblich um neun Uhr gekommen, mürrisch und wortkarg, und war sofort mit Staubsauger, Fensterleder und Staubtüchern nach oben entschwunden.
Jenny las den Kindern noch vor, als Sheriff Gunderson kam. Sie hatte sich noch nicht angezogen und trug einen warmen Morgenrock aus Wolle über ihrem Nachthemd.
Ob Erich etwas dagegen hatte, wenn sie in diesem Aufzug mit dem Sheriff redete? Nein, das konnte wohl nicht sein. Der Reißverschluß des Morgenrocks ging bis zum Hals hoch.
Sie wußte, daß sie blaß war. Sie band ihr Haar schnell im Nacken zusammen. Der Sheriff kam zur Haustür.
»Mrs. Krueger.« Sie nahm eine gewisse Erregung in seiner Stimme wahr. »Mrs. Krueger«, wiederholte er eindringlich.
»Ich habe gestern abend einen Anruf von Maude Ekers bekommen.«
»Ich hatte sie gebeten, Sie anzurufen«, sagte Jenny.
»Das behauptet sie auch. Ich habe nicht gleich mit Ihnen geredet, weil ich herausfinden wollte, wohin Kevin MacPartland gefahren sein könnte, wenn er nicht hierhergekommen ist.«
War es möglich, daß der Sheriff ihr glaubte? Sein Gesicht und seine Stimme waren so ernst. Nein. Er sah aus wie ein Pokerspieler, der gleich sein Gewinnblatt zieht.
»Und mir fiel ein, daß ein Fremder das Tor zur Farm verfehlen könnte, wenn er die Biegung zum Fluß nimmt.«
Die Biegung zum Fluß. O Gott, dachte Jenny. Konnte Kevin dort abgebogen und weitergefahren sein, vielleicht zu schnell, so daß er über die Uferböschung ins Wasser gerast war? Die Straße war stockdunkel.
»Wir haben das Ufer untersucht, und es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß eben das passiert ist«, sagte der Sheriff. »Wir haben einen neuen weißen Buick im Wasser gefunden. Er ist mit Eis überzogen, und wegen des dichten Gestrüpps geht ohnehin kaum jemand ans Ufer. Sonst hätte man den Wagen vielleicht schon im Fluß stehen sehen. Wir haben ihn herausgezogen.«
»Und Kevin?« Sie wußte, was er ihr sagen würde.
Kevins Bild trat vor ihr inneres Auge.
»Im Wagen lag die Leiche eines Mannes, Mrs.
Krueger. Sie ist teilweise verwest, aber alles paßt auf die Beschreibung des Vermißten, einschließlich der Sachen, die er anhatte, als er das letztemal gesehen wurde. Der Führerschein in der Tasche lautet auf Kevin MacPartland.«
O Kevin, dachte Jenny wie vernichtend, o Kevin. Sie versuchte zu sprechen, aber sie brachte kein Wort hervor.
»Wir werden Sie bitten müssen, ihn so bald wie möglich zu identifizieren.«
Nein, wollte sie schreien, nein. Kevin war so eitel, er ärgerte sich über den kleinsten Pickel. Teilweise verwest!
O Gott.
»Mrs. Krueger, Sie möchten sich vermutlich einen Anwalt nehmen.«
»Warum?«
»Weil MacPartlands Tod amtlich untersucht wird, und dabei gibt es sicher ein paar unangenehme Fragen. Sie brauchen jetzt nichts weiter zu sagen.«
»Ich kann sofort beantworten, was Sie wissen wollen.«
»In Ordnung. Ich werde Sie nun noch einmal fragen.
Ist Kevin MacPartland am Abend des neunten März zu diesem Haus gekommen?«
»Nein, das hab’ ich Ihnen doch schon gesagt. Nein.«
»Mrs. Krueger, besitzen Sie einen dunkelbraunen Steppmantel?«
»Ja, das heißt, ich hatte einen. Ich habe
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