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Schrei in der Nacht

Titel: Schrei in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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hast du deinen Mantel im Auto gelassen. Du bist ausgestiegen. Vielleicht hat er aus Versehen nicht den Rückwärtsgang eingelegt und ist nach vorn gesaust.
    Es wäre verständlich, Jenny. Aber du mußt es zugeben.
    Sieh mich bitte nicht mit diesen großen, unschuldigen Augen an. Sieh nicht so ergeben und trübselig drein wie ein armes geschlagenes Opfer. Gib zu, daß du gelogen hast, und ich werde nie wieder davon sprechen. Wir lieben einander so sehr. Sie ist noch da, diese Liebe.«
    Er war wenigstens aufrichtig. Sie kam sich vor, als säße sie auf einem Berg und beobachtete, was unten im Tal geschah, eine ferne unbeteiligte Zuschauerin.
    »Es wäre beinahe leichter, das zu tun, was du möchtest«, sagte sie nach einer Weile. »Aber es ist sonderbar… Wir sind alle die Summe unseres bisherigen Lebens. Nana verachtete Leute, die logen. Sie verachtete sogar Notlügen und Lügen aus Konvention. ›Jenny‹, sagte sie öfter, ›bitte nie Ausflüchte. Wenn du nicht mit jemandem ausgehen willst, sag einfach, nein danke, behaupte nicht, daß du Kopfschmerzen hast oder Mathe pauken muß. Die Wahrheit dient jedermann am besten.‹«
    »Wir reden nicht von Mathe pauken«, sagte Erich.
    »Ich gehe jetzt zu Bett, Erich«, sagte sie. »Gute Nacht.« Es hatte keinen Sinn, dieses Gespräch fortzusetzen.
    Noch vor wenigen Wochen waren sie eng umschlungen nach oben gegangen. Allein der Gedanke, daß sie etwas dagegen gehabt hatte, das seegrüne Nachthemd anzuziehen! Im Rückblick kam ihr all das so belanglos vor.
    Erich erwiderte nichts, obgleich sie langsam hinaufging, um ihm Gelegenheit zu geben, noch etwas zu sagen.
    Sie war so müde und erschöpft, daß sie sofort einschlief. Aber sie träumte immer wieder, und ihr Schlaf war unruhig, stets an der Schwelle zum Bewußtsein. Sie merkte, daß sie sich von einer Seite auf die andere wälzte. Sie träumte wieder; diesmal war sie im Auto und wehrte sich gegen Kevin, der den Schlüssel haben wollte…
    Dann war sie am Wald, ging hinein, suchte. Sie riß den Arm hoch, um Zweige abzuwehren, und da berührte sie auf einmal Fleisch: Ihre Finger tasteten eine Stirn entlang, fühlten die weiche Haut eines Augenlids. Langes Haar streifte ihre Wange.
    Sie biß sich auf die Lippen, um den Schrei zu ersticken, der in ihr aufstieg, fuhr hoch und langte nach der Nachttischlampe. Sie knipste sie an und sah sich gehetzt um. Es war niemand da. Sie war allein im Bett, im Zimmer.
    Am ganzen Leib zitternd, sank sie zurück. Sogar ihre Gesichtsmuskeln zuckten unkontrolliert.
    Ich drehe durch, dachte sie. Ich verliere noch den Verstand. Sie ließ die Lampe brennen und schlief erst ein, als die Strahlen der aufgehenden Sonne durch die Ritzen zwischen den Lamellen der Jalousien drangen.
23
    Sie erwachte, als die Sonne schon recht hoch stand, und dachte sofort wieder an das, was geschehen war. Ein böser Traum, überlegte sie — und es war nur ein Alptraum. Verlegen knipste sie die Nachttischlampe aus und stand auf.
    Das Wetter wurde endlich freundlich. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus zum Wald. Die Knospen an den Bäumen begannen sich zu öffnen. Aus dem Hühnerstall hörte sie die Hähne krähen. Sie machte das Fenster auf und lauschte den Geräuschen der Farm, lächelte vor sich hin, als sie die kleinen Kälber nach ihrer Mutter muhen hörte.
    Natürlich war es ein Alptraum gewesen. Aber die Erinnerung war nichtsdestoweniger so lebhaft, daß sie in Schweiß ausbrach, in kalten, klammen Schweiß. Es war so wirklich gewesen, sie hatte tatsächlich das Gefühl gehabt, ein Gesicht zu berühren. Ob sie Halluzinationen hatte?
    Und der Traum, in dem sie bei Kevin im Auto gewesen war und mit ihm gekämpft hatte. War es möglich, daß sie es war, die Kevin angerufen hatte. Sie hatte an jenem Tag immer nur an Erichs Bemerkungen bei der Dinnerparty denken müssen, sie war außer sich gewesen, und ihr war klargeworden, daß Kevin tatsächlich ihre Ehe zerstören konnte. Hatte sie etwa nur vergessen, daß sie ihn angerufen und um eine Unterredung gebeten hatte?
    Die Gehirnerschütterung von dem Unfall. Der Arzt hatte sie gewarnt, sie solle Kopfschmerzen in Zukunft ernst nehmen.
    Sie hatte Kopfschmerzen gehabt.
    Sie duschte, band sich das Haar zu einer Hochfrisur, zog Jeans und einen dicken Pullover an. Die Mädchen waren noch nicht wach. Wenn sie sich bemühte, die Nerven zu behalten, war sie vielleicht in der Lage, ein wenig zu frühstücken. Sie hatte in diesen drei Monaten zehn Pfund abgenommen. Es war

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