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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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empörenden moralischen Verfall der Standards »jungen Ritter«, die zu sein sie einstmals beschlossen hatten. Auf seiner Abschiedsreise durch die Vereinigten Staaten hatte er feststellen müssen, dass die Hälfte der Freunde seiner Jugend verheiratet war und besagten Badezimmerschrank besaß. »Da wusste ich, das war’s. Ich musste fort.« Familiäres Elend – er konnte es riechen, wenn er ein Haus betrat.
    Wir waren ungefähr drei Jahre zusammen, falls das das richtige Wort dafür ist.
    Über Clancys Berichte über London habe ich im Grunde nicht viel zu sagen, außer dass er behauptete, in London sei er gezwungen gewesen, in billigen Hamburger-Kneipen zu essen. Tatsache ist, dass er von einigen der besten Köche in London bekocht wurde. Wenn er tatsächlich einmal in einer Hamburger-Kneipe landete, dann war das eine Art nostalgischer Ausflug in das tapfer ertragene Elend seiner in Armut verbrachten Jugend. London war sehr gut zu Clancy.
    Er war ein romantischer Mann. Die ganze Linke war romantisch, heroisch, ständig im Bann der Geister von Helden und Heldinnen. Von der dunkleren Seite dieses Faktums später mehr.
    Was mich anging, so begegnete ich Clancy gerade zu der Zeit, als die romantischen – die sentimentalen – Posen der Linken mir auf die Nerven zu gehen begannen. Ich hatte jahrelang von ihnen gezehrt. Sie waren mein »Treibstoff« gewesen, mein Drang zur Verbesserung der Dinge. Es ist schon merkwürdig, wie man weitermachen kann, problemlos, aber mit einem Unbehagen, das zuerst nur leicht ist, aber ständig wächst, und dann überfällt einen eine Woge des Abscheus über das, was man ist, was man gewesen ist, und die Schuppen fallen einem von den Augen. Und dann verabscheut man das, was man gewesen ist, stärker, als es das verdient hätte, aber es geht nicht anders, weil es immer noch eine Bedrohung darstellt.
    Für einen Mann Ende zwanzig war Clancy emotional noch jung. Ich war durch meine Erfahrungen älter als den Jahren nach. Und deshalb stand dies von Anfang an zwischen uns, und wenn er mir vorwarf, ich sei zu prosaisch, praktisch, »vernünftig«, dann war das kein Kompliment.
    Clancy verursachte die schwerste Erschütterung meines Selbstbildes, die ich je erfahren habe. Ich hatte immer als unberechenbar gegolten, taktlos, aufrührerisch, »schwierig«, und nun wurde mir, quasi aus heiterem Himmel, vorgeworfen, ich sei eine englische Lady. Es hatte keinen Sinn, ihm zu erklären, dass jede wirkliche englische Lady mich sofort als »falsche Schwester« ablehnen würde. Diese englische Lady hatte keine Ahnung von der rauen Wirklichkeit des Lebens, die für ihn im Kampf der Armen ums Überleben bestand. Clancy war nie ein Mann, der einen mit vernichtenden Bemerkungen verschonte, und er fiel über mich her, aber ich blieb ihm nichts schuldig. Ich hatte gerade erst die Kunst erlernt, nicht zu sagen, was ich dachte, wenn es mir gerade einfiel, und nun stellte ich fest, dass ich schwer erkämpfte soziale Errungenschaften vor diesem überaus zornigen Sozialkritiker verteidigte.
    »Herr im Himmel, die Engländer bringen mich noch um. Weshalb sagt ihr nie, was ihr denkt?«
    Er machte sich sofort daran, mich in den Realitäten des Lebens zu unterweisen, und er begann mit dem Jazz, wofür ich ihm auf ewig dankbar sein werde. Bis dahin hatte Jazz für mich nicht mehr bedeutet als das Imitieren von Satchmo durch die jungen Leute im Sports Club, wenn sie auf dem Höhepunkt einer Tanzveranstaltung völlig betrunken waren, oder die eingängigen Melodien von Cole Porter.
    Wir kauften zusammen einen Plattenspieler und an die zwanzig Schallplatten, von denen jede in irgendeiner Form etwas Besonderes war, ein Meilenstein des Jazz oder das Beste eines Solisten. Ich brauchte Jahre, um zu begreifen, was für eine vollkommene kleine Kollektion das war. Niemand kann sich dem echten Jazz und dem Blues hingeben, ohne dass seine Sensibilität sich verändert. Clancy wusste das. Wenn er überhaupt etwas war, dann ein Erzieher. Er sah es als seine Aufgabe an, jede unzulängliche Seele auf seinem Weg zu reformieren und umzukrempeln – und das bedeutete, alle Menschen. Er unterwies mich in der Geschichte des Jazz und des Blues, brachte mir bei, den verschiedenen Instrumenten zu lauschen, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, die Art, wie eine Gruppe zusammenspielt, zu würdigen, die Instrumente als Familie zu begreifen. Er bestand darauf, dass mein Geschmack wie seiner nur der allerreinste war. Später, als ich nicht

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