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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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mehr unter seiner Vormundschaft stand, gestattete ich mir auch weniger strenge Maßstäbe, einen schuldbewussten Duke Ellington vielleicht, eine Eartha Kitt.
    Ungefähr vier Jahre lang hörte ich Jazz, vor allem den Blues. Was hat das für mich bewirkt? Wenn die sehnsüchtige, verlangende Du-bist-unerreichbar-Musik der Kriegsjahre, »I’m Dancing with Tears in My Eyes«, »Smoke Gets in Your Eyes«, mich und uns alle damals für die romantische Liebe anfällig gemacht hatte, deren Essenz es ist, dass sie unerfüllbar bleibt, dann glaube ich, dass Jazz und insbesondere der Blues uns dem Leiden geneigt machen und bewirken, dass wir den Schmerz des Verlustes genießen. Das ist eine unzulässige Vereinfachung, aber in meinem Fall fiel das Hören von Blues, von Billie Holiday und Bessie Smith oder den untröstlichen, bruchstückhaften Aufschreien von Charlie Parkers Saxophon, mit einer Zeit des Schmerzes zusammen, und das eine verstärkte das andere. Die überaus genussreichen Melancholien der Adoleszenz können sich zu etwas Gefährlichem, einem Gift, steigern.
    Clancy lehrte mich den Ehrenkodex der amerikanischen Arbeiterklasse – aber war der nicht von den arbeitenden Menschen in Russland und Osteuropa und auch im Schtetl beeinflusst? Clancy wusste immer ganz genau, was Recht und was Unrecht war. Oder, wie man damals sagte, er wusste Bescheid. Sein Verhaltenskodex war der starrste, der mir je begegnet ist.
    Erstens: Wenn ein Freund, ein Bekannter oder auch nur jemand, von dem man nur gehört hatte, seinen Job verloren hatte, dann bestand die erste Pflicht darin, ihm oder ihr einen neuen zu besorgen. Eine Priorität, die Vorrang hatte vor allen eigenen Interessen. Das war ein Vermächtnis der Arbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren.
    Zweitens: Man hasste die Polizei immer und überall. Man verteidigte seine Freunde und Kumpel immer gegen die Polizei, und jede Lüge gegenüber Polizisten war gut, denn sie logen über die Arbeiter, die Armen. Während seiner Reisen durch den Süden Amerikas war Clancy als Landstreicher aus der Stadt gejagt worden, war über die Stadtgrenze gebracht und aus dem Auto geworfen oder ins Gefängnis gesteckt und aller möglichen Verbrechen verdächtigt worden. Wenn man die Polizei auch nur mit einem Wort verteidigte, war das der Beweis dafür, dass man der Mittelschicht angehörte und der Feind war.
    Drittens: Wenn ein Freund oder Genosse oder die Frau oder Freundin eines Freundes in der Klemme steckte, dann kam man ihm oder ihr mit Geld und Essen zur Hilfe.
    Viertens: Wenn jemand auf der Flucht war oder sich versteckt hielt, aus irgendeinem Grund (außer natürlich, wenn es sich um einen politischen Gegner handelte), dann nahm man ihn auf und gewährte ihm Unterschlupf, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Ich glaube, Letzteres war ein Vermächtnis der Zeit der Sklaverei – dem Verstecken entlaufener Sklaven.
    Zu meiner Erziehung durch Clancy gehörte auch, dass er mich in seine Erkundungstouren durch London mit einbezog, durch die Elendsviertel, denn sein Instinkt führte ihn dorthin, gerade so, als wären es nur die niederen Regionen, in denen man die Wahrheit finden konnte. So hatte ich zum Beispiel nicht gewusst, dass an einer bestimmten Straßenecke in Soho jeden Tag unter der Nase der Polizei Poker gespielt wurde. Clancy pflegte dort hinzugehen und sein Glück auf die Probe zu stellen, wenn er knapp bei Kasse war. Er unterhielt sich oft mit Prostituierten. Mich erbitterte seine Einstellung ihnen gegenüber – noch mehr romantische Verklärung und Verherrlichung von Verbrechen und Armut. Damals waren alle Amerikaner von Prostituierten fasziniert, ganz so, als gäbe es bei ihnen keine. Jeder Amerikaner, der mich in jener Zeit besuchte, fragte sofort, wo die Mädchen zu finden seien. Ich schickte sie nach Soho, wo sie jeden Abend auf den Straßen standen, oder nach Bayswater. Aber kurze Zeit später war das verboten, und dann verwies ich sie auf die Schwarzen Bretter der Zeitungshändler.
    Bald freundete Clancy sich mit Alex Jacobs an, einem großen, netten, auf Anhieb sympathischen jungen Mann, einem von denen, die in der gerade im Entstehen begriffenen Neuen Linken eine politische Heimat finden sollten. Alex war nicht der einzige Mensch, von dem ich gehört habe, dass die Tatsache, dass er gezwungen war, monatelang im Bett zu liegen, ohne etwas zu tun zu haben, das Beste war, was ihm je widerfahren ist. In seinem Fall war es Tuberkulose. Er las während der ganzen Zeit, die er im

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