Schritte im Schatten (German Edition)
sondern auch aufgrund meines Zustands in jener Zeit. Ich war an einem Scheideweg angekommen, an einem Wendepunkt; ich war im Umbruch und bereit für Neues. Ich wusste, dass es so war – es war nichts Unbewusstes. Zum einen war ich fest entschlossen, dass mein Gefühlsleben von nun an anders aussehen musste. Zum anderen war da die Politik, der Zusammenbruch des Kommunismus als moralischer Kraft. Rings um mich herum kränkelten Leute an gebrochenem Herzen, hatten Zusammenbrüche, litten unter religiösen Bekehrungen, oder – was sehr oft vorkam – ehemals kommunistische Hardliner entdeckten ihr Talent fürs Geschäft und »machten« Geld, weil besessen zu sein von den Prozessen des Kapitalismus die beste Voraussetzung für eine Karriere im Geschäftsleben ist. Worauf es hinauslief, war, dass ich miterlebte, wie Leute, die alles auf ein Pferd gesetzt hatten, schwer zu leiden hatten. Was vorher aus ihrem Denken vollständig ausgeschlossen war, stürmte jetzt auf sie ein, manchmal in Gestalt von regelrechtem Wahnsinn. Ich war in einer Gesellschaft aufgewachsen, die scharfe Trennlinien zog – Weiß, Schwarz –, und die Folgen davon traten in den Nachrichten aus dem südlichen Afrika bereits offen zutage: gesellschaftliche Verkrustungen brachen auf in Gewalttätigkeiten und Krieg. Und aus noch größerer Ferne kamen die Stimmen meiner Eltern: die meines Vaters – jedenfalls, als es ihm noch halbwegs gut ging, er noch er selbst war –, vorurteilsfrei, human, menschlich, tolerant; meine Mutter war immer bereit, zu kategorisieren, zu verdammen, zu verurteilen. Ich wusste, dass eine bemerkenswerte Zeit in der Geschichte der Welt zu Ende ging. Ich wusste, dass sie schon bald als verrückt gelten würde. Ich hatte gelernt, dass Atmosphären und Meinungsklimata, die zu ihrer Zeit unvergänglich erscheinen, über Nacht verschwinden können. Meine extremste Erfahrung dieser Art war der Ausbruch des Kalten Kriegs unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als alte Freundschaften über Nacht zerbrachen und aus Verbündeten Gegner wurden. Etliche Jahre lang hatte ich gedacht, dass die Romane, die ich über das neunzehnte Jahrhundert gern lesen würde, nie geschrieben worden waren. Es gab massenhaft Geschichtsbücher, aber nur wenige Romane. Wo waren die Romane über die intellektuellen Debatten, die Diskussionen, die Leidenschaften und den Hass, die so oft die wahre Geschichte hinter der von Historikern dargestellten Ereignisgeschichte sind? Wo das Leben, das in sozialistischen Kreisen gelebt wurde?
Ich wollte einen Roman schreiben, den Menschen später lesen und mit ihm herausfinden konnten, wie Leute sich selbst sahen, diejenigen, die Kommunisten waren und von einem goldenen Zeitalter träumten, das – daran muss erinnert werden, wie wir eine kurze Zeit lang geglaubt haben – unmittelbar vor uns lag. Wie hatten wir so etwas Törichtes nur glauben können? Zumindest diese Wahnvorstellungen mussten aufgezeichnet werden.
Ich brauchte einen Rahmen, eine Form, die dem Leben zwischen extremen Politik- und Weltentwürfen und ihrem anschließenden Zusammenbrechen Ausdruck verlieh – etwas, das ich schon einmal durchlebt hatte und jetzt wieder durchlebte. Die Ideologien waren nicht nur strikt politisch, sie betrafen auch die Art, auf die Frauen sich selbst sahen. Heute ist man überzeugt, dass die Frauenbewegung in den sechziger Jahren begann. Wie der Sex. Tatsache ist aber, dass es in der Kommunistischen Partei und ihrem Umkreis bereits in den vierziger und fünfziger Jahren zahlreiche Gruppendiskussionen, Versammlungen und Gesprächsrunden über das Frausein gab, ebenso in den sozialistischen Parteien. Frauen standen auf der Tagesordnung. Frauen haben schon immer herumgesessen und über Männer geredet. Diese Stimmen kamen auch aus meiner frühesten Kindheit. In meinen Erinnerungen wimmelte es von Unterhaltungen über Männer, über Frauen, die Unterschiede zwischen ihnen, Liebe, Sex, Ehe. Neu war nur die Idee, dass diese alten Gewichtungen sich ändern mussten.
Zum Beispiel die Gespräche in Joan Rodkers Küche, die ich für Molly und Anna im
Goldenen Notizbuch
ausbeutete. Joan war Molly, stark abgewandelt natürlich, und ich Ella. Es sollte eigentlich nicht nötig sein, darauf hinzuweisen, dass dies keine strikte Verwendung dessen war, was dort passierte oder gesprochen wurde; der Hunger der Leser nach Autobiografischem ist so stark, dass man ständig wiederholen muss: Nein, es ist nicht einfach so
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