Schritte im Schatten (German Edition)
gewesen.
Erstaunlich, dieses Verlangen nach Autobiografischem. »Nein, Molly war ein Konglomerat aus verschiedenen Frauen, die ich kannte. Ellas Situation im
Goldenen Notizbuch
war meine eigene, nicht aber ihr Charakter, wirklich nicht.« Sofort – Enttäuschung. Ein Bedürfnis nach dem Buchstäblichen, den Fakten, dem Exakten. Virginia Woolf hat einmal zu Recht gesagt, dass von hundert Lesern eines Romans nur einer wirklich an der imaginativen Arbeit interessiert ist, die ein Autor in sein Werk investiert hat; alle anderen wollen wissen, ob der Autor »sich selbst geschildert« hat und ob dies ein Porträt von Freddy oder Jane ist.
Wie sehr wir lernen, diesen hundertsten Leser zu schätzen!
Aber weshalb wollen sie Charaktere in einem Roman immer zu etwas Autobiografischem machen? Wie oft habe ich erlebt, dass sich Enttäuschung auf einem Gesicht breitmachte, wenn ich sagte: Nein, dieser oder jener Charakter ist ein reines Fantasieprodukt oder wurde aus einem Dutzend ähnlicher Leute kombiniert oder aus einer anderen Umgebung in diese versetzt. Was wir sehen, ist eine Abneigung gegen die Fantasie. Was verlangt wird, ist das Reale, das Tatsächliche, das, was »wirklich« passiert ist. Wenn ich sage: »Ja, das alles habe ich tatsächlich erlebt«, dann, oh, die Erleichterung, das Lächeln, die Freude. Weshalb ist das so? Einst beruhte unser gesamtes Geschichtenerzählen auf Fantasie, war Mythos, Legende, Parabel und Fabel, denn auf diese Weise haben wir uns gegenseitig und übereinander Geschichten erzählt. Aber diese Fähigkeit ist unter dem Druck des realistischen Romans verkümmert, jedenfalls so weit, dass sämtliche auf Fantasie oder Imagination beruhenden Aspekte des Geschichtenerzählens in die ihnen entsprechenden Kategorien abgeschoben worden sind. Da gibt es magischen Realismus, Space-Fiction, Science-Fiction, Fantasy, Folklore, Märchen, Horrorgeschichten, denn wir haben die Literatur ebenso in Schubladen eingeordnet wie alles andere. Auf der einen Seite der Realismus – die Wahrheit. Auf der anderen, in einer anderen Schublade, Imagination – Fantasie. Aber die meisten Leser möchten beim Lesen heute denken: Das hat der Autor oder die Autorin
wirklich
erlebt. Und der Autor oder die Autorin, die sich so sehr bemüht haben, die Geschichte aus dem bloß Persönlichen herauszuholen, persönliche und private Erfahrungen zu verallgemeinern, haben manchmal das Gefühl, dass sie sich diese Mühe hätten sparen und ebenso gut einen einfachen und genauen Bericht dessen liefern können, was passiert ist – mit anderen Worten, Autobiografie.
Wenn sich in einem realistischen Roman diese andere Dimension ihren Zutritt erzwingt, weil sie irgendwie darin enthalten sein muss, dann nimmt sie oft die Form von Wahnsinn an. Wenn Jane Eyre die Stimme der ersten Mrs. Rochester hört, wird viel mehr heraufbeschworen als nur die Geräusche, die eine arme, verrückte Frau macht; es ist die gesamte groteske und irrationale, von den Feuern von Himmel und Hölle grell angestrahlte Welt, die wir aus unserem Leben am Tag ausschließen. Auf eigene Gefahr. Dem Wahnsinn in der realistischen Literatur wird zu viel Gewicht beigemessen, und das ist der Grund dafür, dass Wahnsinn gestattet ist. Träume spielen eine überaus wichtige Rolle, weil Träume »realistisch« sind. Schließlich träumen wir alle. Es wäre leicht, eine endlose Liste von »realistischen« Romanen aufzustellen, in denen das Irrationale auftaucht oder sogar von entscheidender Bedeutung ist, aber ausschließlich in seiner akzeptierten Gestalt, wie zum Beispiel Träumen oder Wahnsinn.
Das goldene Notizbuch
wurde unter starkem Druck geschrieben – Druck von innen, was mich auf ein weiteres schwer durchschaubares Gebiet bringt. Manchmal ist der emotionale Druck, der einen Roman vorantreibt, sehr weit von seinem Thema entfernt. Alle Schriftsteller verstehen das, aber wohl nur sehr wenige Leser.
Das fünfte Kind
entstand aus purer Frustration und Wut darüber, dass es unmöglich war, die Zeitungen dazu zu bringen, die Wahrheit zu schreiben über das, was passierte, als die Sowjetunion in Afghanistan einfiel: Eine ganze Generation von Redakteuren und Journalisten (Leuten, die einst am äußersten Rand der öffentlichen Meinung gestanden hatten, aber jetzt mit dem Strom schwammen) hegte immer noch eine sentimentale Loyalität für die Sowjetunion, die es zuerst unmöglich und danach schwierig machte, auch nur ein kritisches Wort über ihr geliebtes Land zu
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