Schritte im Schatten (German Edition)
finde ein Gewerkschaftsfest statt, wo wir hingehen sollten. Auf Trümmergrundstücken zwischen stehen gebliebenen Häusern brannten große Feuer. Um sie herum hüpften und torkelten Betrunkene mit Flaschen in den Händen und sangen oder johlten vielmehr alte Arbeiterlieder aus dem Krieg. Es erinnerte auf gespenstische Art an Bosch. Jahrelang gingen mir diese Szenen nicht aus dem Kopf. Dreißig Jahre später kehrte ich nach Hamburg zurück und erzählte meinem Verleger von diesem Bild. Ungläubig erwiderte er: »Unmöglich, so etwas hat es hier nie gegeben. Das muss in Berlin oder München gewesen sein.«
Und ich habe in der Tat auch die Ruinen von Berlin gesehen, kilometerlang, und ich habe am Brandenburger Tor gestanden. Als ich dreißig Jahre später dorthin zurückkehrte, war keine Spur mehr von den Ruinen zu sehen, man hätte glauben können, dass es den Krieg nie gegeben hatte. Ich traf Leute, die als Kinder im Nachkriegsberlin aufgewachsen waren. Woran sie sich erinnerten, war – abgesehen davon, dass sie ständig hungrig gewesen waren –, dass sie in den zerstörten Häusern gespielt hatten. Sie hatten geglaubt, so wäre eine Stadt nun einmal. Später sahen sie auch unzerstörte Städte. Einer von diesen Männern, als Kind halb verhungert, hatte überlebt, da seine Mutter für die Amerikaner arbeitete. Er sah einen Film mit Orson Welles und sagte sich: »Eines Tages werde ich so viel essen, wie ich mag, und ich werde so dick sein wie Orson Welles.« Er machte seinen Vorsatz wahr und hatte darum Probleme mit seiner Gesundheit. Sein Arzt verordnete ihm eine strenge Diät.
Ich unternahm mit Jack eine Reise nach Süddeutschland. Von ihr habe ich in
Das Auge Gottes im Paradies
berichtet. Die Stimmung der Menschen war damals so schlecht, so niedergedrückt, so zornig. Etwas, das mich zutiefst deprimierte. Die Erzählung hat meine Gefühlslage von damals eingefangen. Einige Deutsche haben mir daraus den Vorwurf gemacht, dass ich sie überhaupt geschrieben habe. Aber in dieser Geschichte geht es nicht um Deutschland, sondern um Europa, wir alle waren es, an die ich dachte, aufbauend, niederreißend, aufbauend, zerstörend, aufbauend …
Die unerfreulichste all meiner Erinnerungen an das Deutschland dieser Zeit betrifft eine Frau, die mich auf einem Bahnsteig anredete und sich heftig darüber beklagte, dass Deutschland geteilt sei. Ihr Vaterland geteilt! Ob ich um diese Ungerechtigkeit wisse? Sei das fair? Was hatten die Deutschen getan, um auf diese Weise bestraft zu werden? Andere Leute stimmten in ihre Tiraden mit ein, bis schließlich alle über mich herfielen. Sie hatten diesen Klang in der Stimme, den man immer dann hört, wenn jemand bewusst und überlaut die Unwahrheit sagt.
Jack reiste auch aus politischer Überzeugung nach Deutschland. Als Marxist weigerte er sich, an nationale Eigenarten oder nationale Schuld zu glauben. Aber dies war das Land, das beinahe seine gesamte Familie ermordet hatte.
Ich steckte in einem tiefen Konflikt. Ich war mit dem Ersten Weltkrieg aufgewachsen und mit der Tatsache, dass sich mein Vater leidenschaftlich mit dem gewöhnlichen deutschen Soldaten identifizierte, der, genau wie die Tommys, Opfer einer skrupellosen Politik war. Andererseits war ich verheiratet mit einem Flüchtling aus Hitlers Deutschland, war mit dem Glauben älter geworden, dass Hitler und die Nazis eine direkte Folge des Versailler Vertrags waren und dass es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben hätte, wenn man Deutschland damals mit intelligenter Großmütigkeit behandelt hätte. Ich glaubte – und glaube noch heute –, dass der Zweite Weltkrieg vermeidbar gewesen wäre, wenn wir, Großbritannien und Frankreich, den Mut gehabt hätten, Hitler schon frühzeitig Einhalt zu gebieten. Wir hätten die Leute, die gegen die Nazis opponierten, unterstützen müssen, anstatt ihnen ständig die kalte Schulter zu zeigen. In Deutschland zu sein hieß auch für mich, gespalten zu sein. Die Deutschen taten mir leid
und
erinnerten mich, wenn ich sie sprechen hörte oder ein Schild mit einer deutschen Aufschrift las, jedes Mal an die Angst, die ich im Krieg empfunden hatte. Ich warf mir vor, dumm und irrational zu sein. Ich erinnere mich an einen Tag, oder vielmehr eine Nacht, in der ich in Berlin auf einem Bahnsteig stand und mir schlagartig klar wurde, dass alle Menschen um mich herum Kriegskrüppel waren: beinlose Männer, armlose Männer, Blinde. Alle waren sie betrunken auf diese besondere Art, die man aus dem
Weitere Kostenlose Bücher