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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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der Gedanke an Sandkisten und Schaukeln schien eine Geschmacksverirrung zu sein.
    Wir hatten eine offizielle Zusammenkunft mit der Leningrader Sektion des Schriftstellerverbands, und da saßen wir, in einem weiteren dieser frivolen Räume, aus einem der düstersten Anlässe, an die ich mich erinnern kann. Naomi hatte gesagt, sie werde darauf bestehen, dass die Leningrader Schriftsteller uns Michail Sostschenko präsentierten. Im Westen gab es Gerüchte, er wäre tot – ermordet. Arnold und ich waren entsetzt. Erstens, weshalb sollte irgendein Schriftsteller irgendwo präsentiert werden, als wäre er ein Beweisstück in einem Gerichtsverfahren? Und zweitens, wir wussten, dass Schriftsteller versuchten, in Deckung zu bleiben, nicht aufzufallen – und das wäre vielleicht das Letzte, was er wollte, durch den Westen zu einem Testfall gemacht zu werden. Aber Naomi blieb hart.
    An die Namen unserer Gastgeber kann ich mich nicht erinnern. Die Eröffnungsreden waren nichts als Schall und Rauch. Wir hatten sie bereits so gründlich satt, dass wir sagten, Gott sei Dank fahren wir bald nach Hause, noch so eine Rede und …
    »Oder noch einen Toast.«
    »Oder noch ein Bankett.«
    Nach einer Weile kann man diese Reden einfach nicht mehr hören. Es ist, als lähmte ihre Rhetorik das Gehirn: die Worte – die Geräusche – ein Narkotikum. Reden dieser Art wurden bei dem Treffen stundenlang gehalten, wurden aber immer wieder von einem jungen Dichter unterbrochen, der von Zeit zu Zeit wie ein Quäker einen Impuls verspürte, dem er nicht zu widerstehen vermochte; dann musste er aufspringen und eine Ode an Stalin rezitieren. Es lag auf der Hand, dass niemand Einwände erheben konnte, weil er damit eine Majestätsbeleidigung riskiert hätte, sodass jedes Mal, wenn das passierte, sämtliche Funktionäre angesichts des inspirierten Jünglings gnädig lächelten und sogar applaudierten. Vor diesem Hintergrund wurde Sostschenko hereingeführt und ließ sich in der Mitte des Raumes nieder, mit den Russen auf der einen und uns auf der anderen Seite. Er war ein kleiner, dünner Mann mit gelblicher Haut, er wirkte krank und war tapfer und würdevoll. Ähnlich wie bei dem mutigen alten Mann auf der Kolchose hatte es den Anschein, als schützte ihn die Situation. Diese Funktionäre, einerlei, wessen Vasallen, Lakaien oder Arschkriecher sie waren, waren alle selbst bedroht, hatten erleben müssen, wie andere Schriftsteller, Freunde oder nicht, ins Exil gingen oder in den Lagern verschwanden. Sostschenko war von den Offiziellen kritisiert worden – und das bedeutete, auch von den ihn jetzt umgebenden –, und zwar schon seit Langem. Er hatte sehr komische, sehr populäre Geschichten über die kleinen Katastrophen und Widrigkeiten im Leben der Menschen geschrieben, die unter dem Kommunismus ihr Dasein fristen mussten, hatte eine wundervolle Novelle verfasst, die einfach
Leute
hieß. Eine Zeit lang war er offiziell gelobt worden, aber das war nicht von Dauer gewesen.
    Während er da so vor uns saß, erklärte er auf Drängen des Vorsitzenden, dass er in der Tat immer noch existiere, dass es ihm gut gehe und er gut behandelt werde, dass er seine Fehler eingesehen habe und sein negatives und kritisches frühes Werk bereue, aber jetzt arbeite er an einem dreibändigen Roman über den Großen Vaterländischen Krieg, mit dem er hoffe, seine früheren Verbrechen zu sühnen.
    Michail Sostschenko starb kurz darauf an einer Krankheit, nicht in einem Lager: Also hatte er mehr Glück als viele andere sowjetische Schriftsteller. Arnold und ich versuchten, als wir uns über seinen Tod unterhielten, uns einzureden, dass unsere groteske und alberne Intervention ihn letzten Endes vielleicht geschützt hatte. Aber ich glaube, dass Stalin, der dergleichen Dinge entschied, die Ansichten dieser »nützlichen Idioten« (Lenins Beschreibung von Leuten aus dem Westen wie uns) völlig gleichgültig waren.
    Inzwischen konnten wir nicht einmal mehr so tun, als wären wir eine einheitliche Gruppe. Naomi und Douglas verbrachten, sofern sie welche hatten, ihre freie Zeit gemeinsam.
    Coppard wollte mit mir zusammen sein, um Bestätigung zu finden. Ihn verstörte die Schäbigkeit von Moskau, aber gleichzeitig war er begeistert über die vielen Besucher – Delegationen – aus allen Teilen der kommunistischen Welt.
    Aber meistens war ich mit Arnold zusammen. Wir redeten und redeten. Wie lächerlich das heute zu sein scheint – dass wir uns selbst so ernst nahmen.

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