Schritte im Schatten (German Edition)
die Geschichte aufgeschrieben, eigentlich nur aus Langeweile, und sie sei ein Bestseller geworden. Er gab vor, dass große Literatur ihn langweile. Entsprach dies der Wahrheit? Hinter seinem phlegmatischen, philisterhaften Äußeren verbargen sich alle möglichen Arten von Empfindsamkeit. Wie wir alle war er aufgebracht über das, was er in Moskau sah, die heruntergekommenen Straßen mit den leeren Geschäften, die miserable Kleidung, das ganze Klima. Es war die Zeit kurz vor Stalins Tod. Wir baten unsere Begleiterin, eine gewisse Oksana, ein wunderschönes Mädchen aus Georgien, eindringlich, uns selbstständig herumwandern zu lassen, aber sie hatte offensichtlich Angst. Gelegentlich gelang es uns, nicht ohne Schuldbewusstsein, Ausflüge zu unternehmen, wenn sie einmal nicht aufpasste. Danach mussten wir uns ihre ängstlichen Vorwürfe anhören: »Was haben Sie getan? Sie dürfen doch nicht …«
In diesen Straßen mit den fast leeren Geschäften gab es zwei Ausnahmen. Die eine waren die Brotläden; sie waren wundervoll, ein Lichtblick in all der Hässlichkeit, vollgestopft mit den unterschiedlichsten Brotsorten, braune, weiße, schwarze, große, dicke, krustige Laibe, die so gut rochen, dass wir sie am liebsten an Ort und Stelle verzehrt hätten. Die andere Überraschung waren Korsettläden. Es war kaum Kleidung zu bekommen, die Schuhe waren schäbig oder klobig, es gab nichts Hübsches oder Frivoles, Modisches oder Farbenfrohes. Aber es gab Korsettläden und in jedem von ihnen ein oder zwei riesige Korsetts, leuchtend rosa oder purpurn, mit Stangen wie Tragbalken und grellrosa Bändern. Aber ein Büstenhalter war nirgends zu sehen.
Szenen, kleine, leuchtend bunte Szenen, die ich festhielt, nachdem ich von der Reise zurückgekommen war, und auf die ich von Zeit zu Zeit gestoßen bin, zwischen anderen alten Papieren und Notizbüchern. »Großer Gott, das ist alles passiert, es ist wirklich passiert …«
Wir sind in der Tretjakow-Galerie, umgeben von riesigen Gemälden mit grasenden Kühen, glücklichen Bauern und anheimelnden Landschaften. Naomi, eine Sammlerin moderner Kunst, steht vor einer Kuhherde. »Das ist eine sehr hübsche Kuh«, gibt sie mit ihrer Oxford-Stimme zu verstehen, die sie aus irgendeinem Grund in Moskau noch eindringlicher betont. Unser Führer, ein Museumsbeamter, betrachtet die Kuh. »Eine hübsche Kuh«, erklärt sie noch einmal, »aber muss sie nicht gemolken werden?« Der Beamte begegnet ihrem unschuldigen Blick, kann aber buchstäblich ums Verrecken nicht lachen. »Sowjetische Kühe werden gut behandelt«, sagt er ernst. Naomi antwortet ihm: »Ich habe eine Kuh in meiner Herde, die genauso aussieht wie diese braune da.« Wir treten hinter sie, lächelnd, bereit, sogar ein Lachen zu riskieren, aber der Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes hält uns davon ab.
Die sowjetischen Künstler, die nur »gesunde« Bilder malen durften, erleichterten sich ihre Situation oft ein klein wenig durch folgende List: Nachdem sie ein Bild fertiggestellt hatten, malten sie absichtlich einen Hund oder eine offensichtlich nicht dazugehörende Figur hinein. Wenn das Bild vor den Funktionären aufgestellt wurde, die Ja oder Nein dazu zu sagen hatten, dann kritisierten diese es, um sich vor Kritik von höheren Stellen zu schützen. Und an diesem Punkt meldete sich der Künstler zu Wort: »Genossen, ich habe es eben gesehen – es ist dieser Hund. Es war ein Fehler, diesen Hund hineinzumalen.« – »Also gut, Genosse, entferne den Hund.« Und das Bild wurde akzeptiert. Diese kleine List hat sich in allen möglichen Kontexten als erstaunlich nützlich erwiesen – natürlich mit den entsprechenden Abwandlungen.
Beim Ausflug zu einer Kolchose fragt Naomi, nachdem die Fahrzeuge mit den Funktionären auf die zu ihr hinführenden Landstraße eingebogen sind, ob wir anhalten können. Unsere Wagen, vier oder fünf, halten an. Wir steigen alle aus, ungefähr zwanzig Leute, und schauen über die Felder hinweg. Es ist August, sehr heiß, das Getreide ist bereits abgeerntet. »Das ist eine ziemlich üble Erosion«, sagt Naomi, in die Gegend deutend. Und das ist es in der Tat. »Aber unsere Getreideernte auf dieser Kolchose war im letzten Jahr sehr gut.« – »Nun, wenn Sie so eine Erosion weiterhin zulassen, werden Sie nicht mehr lange gute Ernten haben«, sagt sie. Auf diese Weise brachte sie ihr unterdrücktes Bedürfnis nach Kritik zum Ausdruck.
Auf dieser Kolchose begegnete mir ein wirklich mutiger Mann.
Wir
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