Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
Vom Netzwerk:
gehe in Ordnung, die Partei werde ihm zur Seite stehen, aber er solle sie sofort über jeden Annäherungsversuch von Spionen, hübschen Jungen und so weiter informieren. Diese Sache machte Arnold schwer zu schaffen. Damals war Homosexualität noch strafbar: Leute konnten dafür ins Gefängnis kommen und kamen auch hinein. Die tolerante Einstellung, die wir heute für selbstverständlich halten, lag noch in weiter Ferne. Dass »die Partei selbst« versprochen hatte, ihm zur Seite zu stehen, war, glaube ich, der Grund dafür, dass Arnold auch dann noch Kommunist blieb, als andere Leute scharenweise aus der Partei austraten. Ich bewunderte auch Harry Pollitt und seine Mitarbeiter: Diesen konventionellen, respektablen Leuten aus der Arbeiterklasse kann es nicht leicht gefallen sein, Arnold zu akzeptieren.
    So ziemlich einer der letzten Orte, die wir besuchten, war ein Ferienlager für Kinder. Wir wussten, dass es ein Vorzeigeobjekt war. Oksana und die anderen behaupteten, jedes Kind in der Sowjetunion verbringe sechs Sommerwochen in einem Lager, das genauso gut sei wie dieses. Es war ein hübscher, gut geführter Ort, voll reizender Mädchen mit Zöpfen und Schürzen und wohlerzogener Jungen. Was uns beeindruckte, war die Bibliothek, angefüllt mit russischen, englischen und französischen Klassikern. Überall auf den kleinen Betten und in den Gemeinschaftsräumen lagen Bücher von Tolstoi und Tschechow und auch englische Literatur. »Unsere Kinder lesen nur das Beste.« Und das sei überall im Lande so? Ja, versicherte man uns. Natürlich diskutierten wir darüber. Es stimmte, dass alle Leute, denen wir begegneten, genauso viel über englische Literatur wussten wie wir selbst, und dass man in der Untergrundbahn Leute sehen konnte, die ihre Klassiker lasen. Der »Widerspruch« war folgender: Diese Leute lebten in einem Land, in dem jeder Augenblick ihres Lebens von einer sinnlosen, brutalen Rhetorik beherrscht wurde. Trotzdem wurden sie in einer humanistischen Tradition erzogen. Ein einziger Band Tolstoi musste in Widerspruch zu allem stehen, was man sie offiziell lehrte.
    Ich glaube, dass Literatur – ein Roman, eine Erzählung, sogar eine Zeile aus einem Gedicht – die Macht hat, Reiche zu zerstören.
»Und ihre Horden verpesten die Zeit.«
    Früher einmal gab es die russische »Intelligenzija«, kultiviert, Musik, Kunst und Literatur liebend; wir kennen sie aus Tausenden von Romanen und Theaterstücken. Während der gesamten kommunistischen Ära bösartig und beharrlich verfolgt, haben diese Leute trotzdem überlebt und ihr Erbe mit aller Sorgfalt bewahrt. Aber das scheint jetzt nicht mehr der Fall zu sein, denn als der Kommunismus zusammenbrach, strömten die schlimmsten unserer Produkte ein, Pornografie und Gewalttätigkeit, und was von dem Erbe noch existierte, brach gleichfalls zusammen. Eine einzigartige Kultur ist untergegangen, eine, die die Welt wahrhaft inspirierte.
    Wir wurden zu einer Reise nach Samarkand eingeladen, aber Naomi sagte, sie müsse zurück zu einer Ratsversammlung in Argyll. Das war ein ebenso bewusstes Vor-den-Kopf-Stoßen der Leute wie Douglas Youngs Kilt oder Richard Masons: »Ich glaube, aufs Ganze gesehen hat mir Lourdes besser gefallen.«
    Diese Einladung hatte etwas durchaus Surreales; doch was hätte an Unglaubwürdigkeit die großen, fast bis in den Himmel reichenden Propaganda-Spruchbänder übertreffen können, die den Roten Platz säumten: TRINKT MEHR CHAMPAGNER ! Seit eh und je versuchte die Regierung den Dämon Trunksucht zu bekämpfen, und der »Genuss« von Champagner galt, im Vergleich zu Wodka, als Schritt zu einem gesünderen Leben. Oder die bei einem dieser endlosen Bankette zwischen Funktionären aufgeschnappte Bemerkung über die einzigartigen Reize eines Urlaubs am Schwarzen Meer. »Meine Frau ist einfach begeistert von der Art, wie man dort Stör zubereitet.«
    Es gab nicht nur die Kolchosen und Volkspaläste und Reden. Es gab auch
Roter Mohn
, ein mit politischen Ermahnungen vollgestopftes Ballett, aber trotzdem nicht langweilig, denn zu der Heuchelei gehörte auch eine Szene in einem dekadenten kapitalistischen Nachtclub, die es dem Publikum erlaubte, das zu genießen, was zu verachten man ihm befohlen hatte: diese Gesichter, gierig, neidisch, verurteilend, während sie die sich windenden Nackten betrachteten. Ganz anders das Publikum der Oper
Iwan Susasin
: Hier konnte man dem sich bewahrenden Russland begegnen. Was für eine Musik, was für ein Gesang! Aber für

Weitere Kostenlose Bücher