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Schritte im Schatten (German Edition)

Schritte im Schatten (German Edition)

Titel: Schritte im Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Vergesst nicht, auf den Schultern von Kommunisten ruhte die Zukunft der gesamten Welt. Von Kommunisten und »fortschrittlichen Kräften«. Heute bin ich überzeugt, dass vor allem Jugendliche glauben, alles läge in ihrer Hand, weil die Erwachsenen solch katastrophale Versager sind. Könnte es nicht möglich sein, dass diese grundlegende Überzeugung der Kommunisten nichts anderes war als eine verzögerte oder fehlgeleitete kollektive Adoleszenz?
    Der Stress, der ständige Druck, unsere Meinungsverschiedenheiten, die Gedrängtheit unserer Termine brachten das Schlechteste in uns allen zum Vorschein oder zumindest die Extreme unserer Natur. Richard Mason wurde noch einzelgängerischer und schweigsamer und übertrieb seine Philisterpose: »Tut mir leid, aber ich gehe nie in ein Theater oder ein Konzert.« Coppard fand in jeder Versammlung diese zugängliche, hübsche junge Frau oder einen Geistesverwandten, dem er erzählen konnte, wie er in seiner Jugend durch ganz England gewandert war; das war oft Samuel Marschak, der als junger Mann Russland durchwandert hatte. Er erklärte allen Leuten, dass er Politiker verabscheue, die herrschende Klasse seines Landes hasse, den Kommunismus liebe. Douglas Youngs gewaltige Körpergröße und sein Kilt lösten Stürme von Applaus aus, wenn er, wann immer er konnte, über die geknechteten Schotten sprach. Naomis schleppende Oberschicht-Stimme wurde von Tag zu Tag unerträglicher. »Aber die armen Dinger müssen einfach lernen, wie man es besser macht.« Arnold wurde immer häufiger von Gefühlen überwältigt und brach in Tränen aus. Für Tränen gab es massenhaft Gelegenheiten. Sie führten uns in eine Tanzhalle, damit wir sehen konnten, wie die Leute sich vergnügten. Das war das Haupt-Vergnügungslokal von Moskau. Es war ein hässlicher, schäbiger Ort. Eine Kapelle spielte Tanzmusik aus den dreißiger Jahren. Und kein Mann in Sicht, kein einziger, nur Frauen und Mädchen, die miteinander tanzten. »Keine Männer?«, fragten wir dumm. Und Oksana sagte: »Die Männer sind doch alle im Krieg gefallen.« Denn sie hatte keinen Mann und rechnete auch nicht damit, je heiraten zu können – ähnlich der Generation meiner Mutter, deren Männer tot waren.
    Arnold weinte, und ich wurde von Stunde zu Stunde wütender. Wir saßen in meiner mit Plüsch überladenen Suite, wo jedes Wort, das wir sagten, abgehört wurde, und gelangten zu dem Schluss, dass es uns reichte, wir konnten diese offizielle Rhetorik nicht mehr ertragen, das Problem mit den Russen war, dass sie nicht genügend Kontakt mit der Außenwelt hatten und einfach nicht imstande waren, sich auf eine einfache, menschliche Art und Weise auszudrücken. Was wir tun mussten – das beschlossen wir nach einer langen Diskussion –, war, eine Frage zu formulieren, die Alexei Surkow zwingen würde, uns eine ehrliche Antwort zu geben, ohne den ganzen Jargon. Wir einigten uns auf die Frage: »In jeder Gesellschaft, selbst in der starrsten, werden ständig neue Ideen geboren und in der Regel als verwerflich oder sogar aufrührerisch betrachtet, doch dann werden sie akzeptiert, um später ihrerseits von Ideen beiseitegefegt zu werden, die anfangs gleichfalls für ketzerisch gehalten wurden. Wie reagiert die Sowjetunion auf diesen unausweichlichen Prozess, der verhindert, dass Kulturen stagnieren oder verfallen?« Wenn auch nicht der genaue Wortlaut, so war das meiner Erinnerung nach zumindest der Sinn der Frage. Arnold und ich fanden einen Augenblick, in dem Surkow nicht von seinen Lakaien umgeben war. Wir sagten, wir würden ihm gern eine für uns äußerst wichtige Frage stellen. Er hörte aufmerksam zu, nickte (mit der Ernsthaftigkeit, die die sowjetische Etikette erforderte) und sagte: »Ja, das ist eine sehr gute Frage«, er werde uns seine Antwort morgen geben, wenn wir nach Jasnaja Poljana führen. Das war Tolstois Landsitz, ein Wallfahrtsort. Wir erwarteten tatsächlich eine wirkliche Antwort.
    Wir fuhren am nächsten Tag mit mehreren Wagen aufs Land, und an den Straßen standen Leute, die wilde Erdbeeren verkauften. Sämtliche Funktionäre kauften welche, auch Boris Polewoi, der, obwohl kein Funktionär, in Moskau mit uns zusammen war. Er war ein viel gelobter Schriftsteller und hatte gerade einen Band Liebesgedichte veröffentlicht, die von offizieller Stelle gutgeheißen worden waren, obwohl Liebesgedichte als gewagt galten und Stalin selbst gesagt hatte, derartige Ergüsse sollten auf das Schlafzimmer beschränkt werden.

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